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Aristolochia clematitis wächst auf Getreidefeldern und ist als Osterluzei bekannt.

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Die Osterluzei ist eine Pflanze, die weltweit verbreitet ist, auch weil sie als Bestandteil der Tradtionelle chinesische Medizin global im Einsatz ist.

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Stellen Sie sich vor, Sie spazieren durch ein kleines Dorf in Kroatien. In manchen Häusern sind sämtliche Familienmitglieder über 25 Jahre tot. In anderen sind alle am Leben", so beginnt Shahrokh Shariat, Leiter der Urologie am Wiener AKH die für ihn "unglaublichste Geschichte" seines Fachbereichs zu erzählen. Derartige ungeklärte Todesfälle ereignen sich seit 100 Jahren in kleinen Dörfern entlang der Donauregion Südosteuropas. Bei den betroffenen Personen gehen die Nieren kaputt, sie bekommen Krebs im oberen Harntrakt – im Nierenbecken oder in den Harnleitern, die von der Niere zur Blase führen. Die Erkrankung wurde als Balkan Endemic Nephropathy bezeichnet. "Lange Zeit haben wir nicht gewusst, woher das kommt", sagt Shariat.

Ähnlich Mysteriöses spielte sich dann aber in Taiwan ab. Man verzeichnete einen deutlichen Anstieg derselben Krebsart seit den 1980er-Jahren. Und das, obwohl es sich bei sogenannten Urothelkarzinomen im oberen Harntrakt um sehr seltene Tumoren handelt. "Man hat vermutet, es liegt an Arsen im Wasser", so Shariat und führt seine Zuhörer an einen dritten Schauplatz: Brüssel. "Mitte der 1990er-Jahre kamen in Belgien plötzlich auffallend viele Frauen mit Nierenschäden in Kliniken. Viele von ihnen hatten ein Urothelkarzinom des oberen Harntrakts." Interessanterweise hatten sich alle diese Frauen zwischen 1990 und 1992 in ein und dieselbe Klinik begeben, um abzunehmen. Dort erhielten sie eine Mischung aus chinesischen Kräutern, darunter Aristolochia fangchi in hoher Dosierung.

Gift aus der Pflanze

Wie das mit den Fällen am Balkan und in Taiwan zusammenpasst, sollte erst Jahre später geklärt werden. Shariat: "Vor einiger Zeit, als ich noch in New York arbeitete, erzählte mir ein Pharmakologe, dass seine beste Freundin, eine Pathologin, sich die Bilder der geschädigten Nieren aus Brüssel angesehen hat und meinte: Das schaut ähnlich aus wie die Bilder, die wir vom Balkan und aus Taiwan kennen. Dazu haben wir dann eine größere Forschungsgruppe gebildet."

Jener Pharmakologe, Arthur Grollman, Professor an einer Universität in New York, ging mit einem Teil der Forschungsgruppe zunächst nach Kroatien. Auf die Ursache der Balkan Endemic Nephropathy stieß Grollman schließlich in einer Bibliothek vor Ort, und zwar in der Veterinärliteratur, erzählt er bei einem Besuch an der Wiener Universitätsklinik für Urologie. "Die Vergiftung von Pferden mit sogenannten Aristolochia-Pflanzen war seit 1925 dokumentiert. Pferde, die diese Pflanzen fressen, entwickeln Nierenschäden."

Diffizile Spurensuche

Als Nächstes besuchte Grollman Patienten mit Nierenschäden in der nächstgelegenen Dialyseklinik: "Niemand von ihnen hatte chinesische Kräuter eingenommen. Was sie aber berichteten, war, dass sie sich zu einem großen Teil von Brot ernährten, das sie aus selbst angebautem Getreide herstellten." Da zählte der Forscher eins und eins zusammen, denn in deren Anbaugebieten wächst in großen Mengen Aristolochia clematitis. Er stellte die Hypothese auf, dass die Langzeitaufnahme von Aristolochia-Pflanzen in geringer Dosis im Brot zu DNA-Schäden und Mutationen führt. Allerdings vermutete er bei den erkrankten Personen eine genetische Anfälligkeit. Denn nicht alle Personen die das verunreinigte Getreide aßen, erkrankten. Er konnte seine Hypothese schließlich beweisen. "Anfangs nur in Kroatien, dann mussten wir die Studie in Bosnien und Serbien wiederholen, um die Menschen vor Ort zu überzeugen", so Grollman.

"Mit der Zeit konnte man in einigen Regionen durchsetzen, dass Menschen ihr Getreide einschicken müssen. Es wird dann mit unbedenklichem Getreide vermischt, um die Dosis und damit das Krankheitsrisiko zu verringern. Leider ist das sehr kompliziert und es gibt noch keine übergreifende Strategie", ergänzt Shariat.

In sieben Jahren

Die Menschen am Balkan waren über lange Zeit einer geringen Dosis ausgesetzt. "Es dauert etwa 20 bis 25 Jahre, bis sich so viele Toxine ansammeln, dass es zu Nierenschäden und Krebs im oberen Harntrakt kommt", erklärt Shariat. Die Frauen in Belgien erkrankten bereits innerhalb von sieben Jahren nach Beendigung der Einnahme jener Präparate, die den Gewichtsverlust fördern sollten, was an der höheren Dosierung liegen dürfte. Von 1800 Frauen, die die Präparate eingenommen hatten, entwickelten 112 eine sogenannte Chinese Herb Nephropathy. Bei etwa der Hälfte der Erkrankten kam es zu Nierenversagen, in 18 Fällen wurde ein Urothelkarzinom diagnostiziert.

Bei erkrankten Frauen wurden Aristolochia-Säure-assoziierte DNA-Schäden in der Niere gefunden. Die Nephrologin Joëlle Nortier und ihre Kollegen, die diese Fälle untersuchten, schlussfolgerten: "Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die Aufnahme von chinesischen Kräutern der Aristolochia-Spezies das Risiko für ein Urothelkarzinom dramatisch erhöht."

TCM als nationale Medizin

Erkrankte Personen am Balkan und in Brüssel hatten also ein und dieselbe Nierenerkrankung. Was es nun mit den Urothelkarzinomen in Taiwan auf sich hat? Grollman berichtet über einen jährlichen Export von knapp 70 Tonnen Aristolochia debilis von China nach Taiwan. Shariat ergänzt: "Anders als in China ist in Taiwan klar definiert, welche Wirkstoffe in welcher Dosierung und für welche Krankheit eingesetzt werden. Daher konnte nachgewiesen werden, dass Urothelkarzinome zu einem großen Teil aufgrund von Aristolochia-Pflanzen entstanden sind. Wir konnten mit den Behörden durchsetzen, dass zwei der vier hauptsächlich eingesetzten Pflanzen nicht mehr verwendet werden dürfen."

Forschungsansätze in China gestalten sich jedoch schwieriger. Grollman: "Die Häufigkeit von Nierenschädigungen und Urothelkarzinomen stellt in China ein Problem des öffentlichen Gesundheitswesens dar. Aristolochia wird im Chinesischen Arzneibuch gelistet und häufig verwendet." Shariat: "Wir arbeiten seit sieben Jahren in China, um dieses Krebsrisiko nachzuweisen. Aber es ist unmöglich. Man müsste die traditionelle chinesische Medizin hinterfragen, von der sehr viele überzeugt sind. Das passt wohl nicht in die politische Strategie. Aber das ist natürlich nur unsere Spekulation." (Anna Egger, 24.11.2018)