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Frauen für "verrückt" oder – zeitgemäßer – psychisch labil zu erklären ist noch heute eine Strategie, um Frauen über ihre Gewalterlebnisse zum Schweigen zu bringen.

Foto: AP/Esteban Felix

Helen* hat sämtliche Beweismittel gut sortiert auf ihrem Laptop. Da ist ein Ordner mit Fotos, einer mit Chatverläufen und sogar einer mit Audiodateien. Alles ist genau beschriftet. Außerdem sind da Polizeiprotokolle, ZeugInnenaussagen und Aktenvermerke. Die Fotos zeigen unter anderem ein verletztes Ohr, eine aufgeplatzte Lippe, diverse Blutergüsse im Gesicht und am Körper. "Meistens hat er mich aber an den Haaren gepackt und auf den Kopf geschlagen, ich hatte ständig Schmerzen", sagt die junge Frau kühl und liest aus den Chatverläufen vor.

"Du bist eine richtig gestörte Frau", steht da als Antwort auf ihre Bitte, über seinen Umgang mit anderen Menschen nachzudenken. "Du nerviges Stück Scheiße" schreibt er, als sie ihm Blumen-Emojis schickt. Er beschimpft sie wüst. Helen hat alles archiviert. "Er", das ist ihr Exfreund, den sie im Sommer wegen Körperverletzung in neun Fällen, in einem davon schwer, wegen fortgesetzter Gewaltausübung, Nötigung und gefährlicher Drohung angezeigt hat.

Nach der Trennung vergingen einige Monate, bis sich Helen schließlich bereit fühlte, Anzeige zu erstatten. Unter anderem deshalb, weil sie sich bewusst war, dass eine solche erst der Beginn eines langen und mühsamen Kampfes sein würde und sie Angst vor Reaktionen hatte. Ihr Exfreund ist ein charmanter und beliebter Mann, dem niemand Gewalt zutrauen würde. "Es ist außerdem schwer, jemanden anzuzeigen, der einem einmal nahe stand, für den man Gefühle hatte", sagt sie. Sie hat sich zuvor mehrmals Rat bei einer Opferschutzorganisation geholt, wo man sie so sensibel wie möglich darauf vorbereitet hat, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass das Verfahren trotz allem eingestellt wird. Trotz der massiven multimedialen Beweislast. Trotz der übersichtlich aufbereiteten Dateien, die die Staatsanwaltschaft davon abhalten sollen, den Akt sofort wieder wegzulegen.

Psychische Gewalt ist reale Gewalt

Laut einer Erhebung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) zu geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen ist jede fünfte Frau ab ihrem 15. Lebensjahr mindestens einmal in ihrem Leben von körperlicher und/oder sexueller Gewalt betroffen. Eine Studie des Österreichischen Instituts für Familienforschung hat erhoben, dass fast 30 Prozent der Österreicherinnen körperliche Gewalt in der Partnerschaft erfahren.

Laut österreichischem Bundesverband der Gewaltschutzzentren und Interventionsstellen gegen Gewalt in der Familie waren im Jahr 2017 88 Prozent der Gefährder männlich, in österreichische Frauenhäuser sind laut Statistik vergangenes Jahr 85 Prozent der Frauen vor ihren (Ex-)Partnern geflohen. Dann ist da noch die Dunkelziffer: Bei körperlicher, nichtsexueller Gewalt wird nur einer von fünf Übergriffen angezeigt. Bei sexueller Gewalt sind es nach Schätzungen nur einer von zehn. Gewalt gegen Frauen ist zum Großteil nach wie vor unsichtbar.

Wie "hysterisch"

Helen brauchte auch deshalb Zeit, weil sie nach über einem Jahr gewaltvoller Beziehung körperlich und psychisch geschwächt und ihr Selbstwertgefühl vollkommen ausgehöhlt war. Dafür hatte ihr Ex nachhaltig gesorgt. Nicht nur durch seine physischen Attacken, sondern auch durch eine perfide Form der geschlechtsspezifischen psychischen Gewalt, die sehr viele Frauen betrifft. In der oben zitierten FRA-Studie, in der 42.000 Frauen befragt wurden, gaben 43 Prozent an, bereits irgendeine Form der psychischen Gewalt in der Partnerschaft erlebt zu haben.

(Ex-)Partner im Kleinen und die patriarchale Gesellschaft im Großen pathologisieren als unerwünscht kategorisierte Gefühle, Reaktionen und Entscheidungen von Frauen. Das heißt, dass sie als krankhaft, als in einer psychischen Störung begründet, als "hysterisch" dargestellt werden. So sollen sie entwertet und delegitimiert werden. Und die Frau soll ruhiggestellt werden. Doch nicht nur das. Betroffenen Frauen wird zudem gerne vorgeworfen, sie würden übertreiben und sich alles nur einbilden. Dafür gibt es einen Begriff: Gaslighting. Dabei wird Betroffenen stets gesagt, dass ihre subjektive Wahrnehmung falsch ist. Bis sie es schließlich selbst glauben. Bis sie sich selbst für "verrückt" und "gestört" halten und am Ende vielleicht wirklich eine Therapie brauchen.

Zurück in die "weibliche Sphäre"

Das klingt für nicht betroffene und psychisch stabile Menschen schwer nachvollziehbar, aber diese Strategien gegenüber Frauen haben tatsächlich eine lange Tradition, weiß die feministische Philosophin und Beraterin Bettina Zehetner von der Beratungsstelle Frauen beraten Frauen in Wien. "Die Psychiatrie war in der Medizingeschichte immer der Ort, an den kritische, unbequeme, politisch aktive Frauen abgeschoben wurden. Ihnen wurden Mastkuren verordnet, um die sogenannte Hysterie zu besänftigen. Frauen sollten dort wieder auf 'ihren' Bereich getrimmt werden: Häuslichkeit, Beziehungsarbeit, Sorgearbeit für Mann und Kinder", sagt sie.

Frauen, die sich wehren und widersprechen, die ihrer gesellschaftlich vorgesehenen Rolle nicht gerecht werden wollen oder können, wurden demnach schon immer mit Gewalt zum Schweigen gebracht. Aber wie ist das überhaupt möglich? "Frauen wird in ihrer Sozialisation eingebläut, auf die Gefühle anderer einzugehen. Wenn ihnen dann gesagt wird, dass sie krank sind und sich Dinge einbilden, geht das sofort hinein, weil ihnen beigebracht wurde, Erwartungen und Normen zu entsprechen, nicht anzuecken, darauf zu achten, was andere wollen und denken. Männer lernen hingegen eher, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen", sagt Zehetner. Deshalb hätten sie tendenziell auch ein stärkeres öffentliches Auftreten.

Helen war schon während der Beziehung klar geworden, dass ihr Partner sie zerstört, sie absichtlich unterdrückt, um sich selbst zu erhöhen, seine Fehler und Probleme auf sie abwälzt, und doch hat sie lange gebraucht, um sich loszulösen. "Er war sehr manipulativ", sagt sie. "Er war rhetorisch brillant, er hat es immer geschafft, dass ich mich schuldig gefühlt habe. Es ging immer nur um ihn und um sein Leben. Ich war da, damit er sich besser fühlen konnte. Er ließ alles an mir aus. Gleichzeitig hat er stets betont, wie wichtig ich für ihn bin."

Medien als Mittäter

Das ist auch ein Grund, warum betroffene Frauen sich oft erst spät trennen und die Gewalt erdulden. "Frauen stellen sich in solchen Situationen schnell selbst infrage. Das höhlt nach Monaten und Jahren ihr Selbstvertrauen aus. Sie kommen zu uns und kennen sich kaum mehr mit sich aus. Es braucht viel Aufbauarbeit in der psychosozialen Beratung, damit sie ihrer Wahrnehmung wieder vertrauen", sagt Zehetner. Auch zeigt sich, dass Betroffene das, was sie täglich an psychischer Gewalt erleben, oft lange nicht als solche benennen. Die französische Psychiaterin und Psychotherapeutin Marie-France Hirigoyen, die maßgeblich zur Gesetzgebung gegen psychische Gewalt in Frankreich beigetragen hat, sagt, dass Frauen sich mit psychischer Gewalt abfinden, weil sie nicht als solche erkennbar ist.

Eine ganz wesentliche Rolle spielen für diese Selbst- und Außenwahrnehmung auch Medien und das Bild, das durch sie von betroffenen Frauen gezeichnet und verbreitet wird. Sie befeuern das gefährliche Klischee von der "gestörten" Frau, die Angriffe provoziert hat, die mitschuldig an der Gewalt ist, die ihr angetan wurde. "Himpathy" nennt dieses Phänomen die amerikanische Philosophin Kate Manne. Sie hat ihn dazu gebracht! Er konnte nicht anders! Manne will mit diesem Begriff die gelernte emotionale Überbewertung des Mannes beschreiben, die wiederum die gelernte emotionale Unterbewertung der Frau spiegelt, übersetzt die Journalistin Meredith Haaf diesen Reflex. So wird in der Berichterstattung oft auf unseriöse Weise vermittelt, dass sie sich alles nur aufgrund ihrer psychischen Unzulänglichkeit einbildet.

Was macht diese tendenziöse Berichterstattung mit betroffenen Frauen? "Es gibt tatsächlich Frauen, die öffentlich diskutierte Fälle in der Beratungsstunde aufbringen. Es verletzt sie noch einmal, weil sie sich oft mit der Frau, die Gewalt erfahren hat, identifizieren. Es bringt sie zurück in ein Verschweigenwollen. Das ist ein Riesenproblem, weil es ihnen ohnehin schwer fällt, darüber zu reden", zeigt sich Zehetner besorgt.

Selbstverständliche Ferndiagnosen

Auch für Helen ist die mediale Berichterstattung immer wieder ein Trigger. Vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird. In ihrem Fall war der diesbezügliche Höhepunkt die bei der Polizei vorgelegte schriftliche Aussage ihres Exfreundes. Über seinen Anwalt lässt er sämtliche Vorwürfe und Vorfälle kommentieren. Trotz der zahlreichen Beweise, wozu auch aussagekräftige Audioaufnahmen zählen, wird jede Form der Gewalt gegen Helen als Notwehr oder Erfindung abgetan. Sie habe ihn bedrängt, sei ausfällig geworden, war krankhaft eifersüchtig.

Seine Handlungen seien nur unmittelbare Reaktionen auf Helens Grenzüberschreitungen gewesen. Er habe sich lediglich maßvoll zur Wehr gesetzt, steht sinngemäß in dem Papier. Sie hat ihn dazu gebracht! Er konnte nicht anders! Helen werden darin außerdem ohne Grundlage chronische psychische Probleme, eine insistente Persönlichkeit und eine Logorrhö diagnostiziert. Außerdem habe sie Kampferfahrung. "Ich habe vor einigen Jahren einmal ein paar Monate Kickboxtraining in Anspruch genommen", sagt die zierliche Frau lachend. "Klar bin ich eine Kampfmaschine!"

Mittlerweile nimmt sie psychologische Hilfe in Anspruch, um ihr Trauma zu verarbeiten und die Zeit bis zur potenziellen Anklageerhebung für sich zu nutzen. "Nach seinem Statement war ich erleichtert, weil es absurd ist, wenn man die Beweise kennt", sagt sie. Und doch hat sie Angst vor einem Gerichtsverfahren. Angst vor diesem System. (Nicole Schöndorfer, 25.11.2018)