Gibraltar wird auf der Zielgeraden der Brexit-Verhandlungen nochmals zum Stolperstein.

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Im Finale der Verhandlungen über die endgültigen Versionen des Vertragsentwurfs zum Brexit sowie der "politischen Erklärung", wie die EU-27 und Großbritannien nach dem Austritt am 29. März 2019 miteinander weitermachen wollen, herrschte in den Stunden vor dem entscheidenden EU-Gipfel am Sonntag ein Nervenkrieg: "Einigung im Streit um Gibraltar!" , hieß es in Verhandlerkreisen bereits am Freitag in der Früh. "Spanische Regierung dementiert Einigung!", kam umgehend aus Madrid. "Wir haben sehr hart gearbeitet und in der Tat mit den spanischen Kollegen eine Einigung über die Rolle von Gibraltar im Rückzugsprozess erzielt", ließ Gibraltars Regierungschef Fabian Picardo wissen, dessen 6,5 Quadratkilometer großes Land seit 300 Jahren britische Kolonie ist. Aber auch das war vorschnell – zumindest öffentlich.

Derweilen hatten sich die Botschafter der EU-Staaten in Brüssel getroffen, um noch übrige Fragen zu klären. Denn die EU-Staats- und Regierungschefs sollten am Sonntag zwei backfertige Texte vorfinden und mit Premierministerin Theresa May ohne große Debatten "den Sack zumachen".

Spanien droht

Aber der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez wollte die Sache bis zur letzten Minute spannend machen. Sein Land hat die nach dem Friedensschluss von Utrecht 1713 von den damaligen Großmächten Frankreich und England verfügte Abtretung nie ganz akzeptiert.

Daher stieß sich Sánchez daran, dass Spanien im EU-Austrittsvertrag keine Sonderrolle bei künftigen Gesprächen über einen Freihandelsvertrag bekommen würde. Wenn es keine Änderungen am Vertrag über den Austritt Großbritanniens aus der EU gebe, werde er sein Veto einlegen, erklärte er am Freitag.

Auf Lösungssuche

Dafür ist laut EU-Verträgen die EU-Kommission zuständig, wenngleich die EU-Partner in ihren vor zwei Jahren beschlossenen Leitlinien für die Brexitverhandlungen auf das Sonderproblem hingewiesen hatten. Die juristisch leere Vetodrohung von Sánchez – weil der Brexitvertrag im Rat notfalls mit Mehrheit beschlossen werden kann – erstaunte auch die Verhandler, wie ein in die Gespräche involvierter Vertreter des Rates dem STANDARD sagte: "Dass Madrid erst jetzt draufkommt, ist nicht sehr glaubhaft." Am Ende werde man eine Lösung finden – genauso wie bei ähnlichen nationalen Bedenken von Frankreich, Portugal und den Niederlanden, was die Fischereirechte in britischen Gewässern betrifft. Der spanische Premier wollte dies offenbar für einen großen Auftritt in Brüssel am Samstag nützen, wo er noch vor dem EU-Gipfel May trifft.

In der Sache selbst scheinen die Dinge zwischen London und Brüssel geklärt. Nach der Billigung der beiden Papiere – 585 Seiten hat der Vertrag, 26 die "Erklärung" – wird sich ab nächster Woche das Hauptaugenmerk auf das Geschehen in London richten. Vom Europäischen Parlament in Straßburg, das die Vereinbarungen ebenfalls ratifizieren muss, sind keine Probleme zu erwarten.

Aber die britische Premierministerin war am Freitag offenbar nach wie vor recht weit davon entfernt, im Unterhaus eine Mehrheit für "ihren" Weg des Königreichs aus der EU zu finden. Die Opposition aus Labour, Liberaldemokraten sowie schottischen und walisischen Nationalisten hat sich ebenso gegen das Austrittspaket positioniert wie 40 bis 60 konservative Brexit-Ultras sowie bis zu zehn Torys, die für den EU-Verbleib eintreten. Vehement kritisch zeigen sich auch die zehn Parlamentarier der erzkonservativen Unionistenpartei DUP aus Nordirland, die im Unterhaus der konservativen Regierung als Mehrheitsbeschafferin dient.

Öffentlich warb May am Freitag unermüdlich für ihren Weg. In TV- und Radioauftritten erläuterte sie Details der zwei Papiere; sie habe zudem "viele freundliche Nachrichten" aus der Bevölkerung bekommen. Die Möglichkeit eines zweiten Referendums schloss sie erneut aus.

Alles ist möglich

Auch Finanzminister Philip Hammond warb am Freitagabend in Belfast bei der DUP-Parteitagseröffnung für das Brexit-Paket. Sehr viel Aufmerksamkeit war am Samstag der Gastrede des Brexiteers und Ex-Außenministers Boris Johnson sicher. Mit dem Auftritt zementiert er die parlamentarische Allianz zwischen konservativen EU-Feinden und den Unionisten.

In London scheint derzeit alles möglich. Und den EU-27 bleibt nichts anderes übrig als abzuwarten. Auch die Vorbereitungen für ein Scheitern des Vertrags, also einen "No deal"- oder "Chaos"-Brexit, sind abgeschlossen. Die Kommission könnte in diesem Fall innerhalb von zwei Wochen ein Notfallszenario umsetzen, heißt es in Brüssel. Schwere wirtschaftliche Verwerfungen wären dann aber unvermeidbar. (Thomas Mayer aus Brüssel, Sebastian Borger aus London, 23.11.2018)