Thomas Jaeger ist Professor für Europarecht an der Universität Wien.

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Vor gut zwanzig Jahren hätte ich, hätten Fachkollegen auf die Frage "Was eint Europa?" geantwortet: die gemeinsamen Werte, auf die sich die Union gründet. Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) listet sie auf, etwa die Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechte und vieles mehr. Frei von ethnischem, geografischem, historischem oder religiösem Dünkel, inklusiv statt exklusiv. In jenen Jahren der "EU-Phorie", zwischen dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der Ablehnung des Europäischen Verfassungsvertrags bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden 2005, in die auch der österreichische EU-Beitritt von 1995 fällt, schienen die Bäume der Integration in den Himmel zu wachsen. Die Schäden von 200 Jahren Nationalismus in Europa, vor allem in den Köpfen, schienen überwunden.

Polykrise der EU mit Brexit als Super-GAU

Seither ist viel geschehen. Ab 2008 begann die Zeit der großen Krisen, die bis heute andauernde "Polykrise der EU": Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise, Querelen und Flegeleien über Austeritätspolitik, später Flüchtlinge und deren Verteilung, Grenzöffnung, Grenzschließung und Grenzschutz. Dazu in zahlreichen Mitgliedstaaten sowie als globaler Trend eine Renaissance des Ultranationalen und Ultrapopulistischen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Hinzu kommt der Brexit als bisher größter anzunehmender Unfall, als Super-GAU der Integrationsgeschichte.

Zudem brachten die letzten Jahre zunehmend Konflikte betreffend die rechtsstaatliche und demokratische Reife einzelner, vorwiegend osteuropäischer Mitgliedstaaten ans Licht: Dabei allen voran liegen Polen und Ungarn, gegen die 2017 beziehungsweise 2018 jeweils Stimmrechtsentzugsverfahren wegen schwerwiegender Werteverletzungen eröffnet wurden. Auch im nächsten Ratsvorsitzland Rumänien und, etwas abgestuft, Bulgarien bestehen schwerwiegende Mängel bei Rechtsstaat, Justiz und Korruptionsbekämpfung.

Bei der aktuellen Gleichschaltung der Justiz in Polen oder im Orban'schen Modell einer "illiberalen Demokratie" wird nicht behauptet, von den Werten des Artikels 2 EUV würde abgewichen: Sie werden lediglich anders gewichtet. Demokratische Legitimierung sticht die anderen Werte und erlaubt der Regierung Eingriffe im Interesse des mutmaßlichen Volkswillens. Der Versuch, Demokratie gegen andere Werte in Stellung zu bringen, weckt Erinnerungen an düstere, vergangen geglaubte Zeiten. Und doch ist es 73 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 29 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer in Europa Realität.

Was eint Europa? Das Recht!

Was also eint Europa heute noch? Es war und ist das Recht: Unterschiedliche Sichtweisen auf gesellschaftliche und andere Fragen sind in modernen Demokratien normal und erwünscht. Aufgelöst werden sie nötigenfalls durch die Gerichte. Im europäischen Recht ist dazu letztlich der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) berufen. Seit den Anfängen der EU ist er eine treibende Kraft der Integration. Seine Urteile haben zahllose Defizite und Blockaden der Politik überwunden und über die Jahrzehnte das Funktionieren der EU gesichert.

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Der Europäische Gerichtshof mit Sitz in Luxemburg.
Foto: reuters/lenoir

Auch der Polykrise der EU setzt der Gerichtshof heute rechtliche Antworten entgegen, indem er die in Bedrängnis geratene Herrschaft des Rechts (im Englischen anschaulich "rule of law") absichert und stärkt. Der EuGH gewährleistet effektiven und vollwertigen Rechtsschutz im Fall der Verletzung des geltenden Rechts. Dadurch bindet er die Politik, gerade auch jene der Mitgliedstaaten, rück an die Fakten und die Gesetze als Grundlagen allen staatlichen Handelns.

Ein Beispiel bietet das Rechtsstaatsverfahren gegen Polen

Die angesprochenen Stimmrechtsentzugsverfahren gegen Polen und Ungarn werden im Sand verlaufen, da die Mitgliedstaaten einstimmig entscheiden müssten. Parallel sind aber auch Klagen beim EuGH anhängig, etwa gegen die Zwangspensionierung unliebsamer Richter des polnischen Obersten Gerichts. Allerdings: Gegen welches Unionsrecht verstößt dies? Die Kommission stützte sich auf das Argument der Altersdiskriminierung, das aber die Tragweite des Eingriffs in die richterliche Unabhängigkeit nicht abdecken kann. Insbesondere ist es schwer, darauf die einstweilige Unterlassung zu stützen, denn gängige Abhilfe bei Diskriminierung ist Schadenersatz, aber kein direkter Anspruch auf Einstellung oder Weiterbeschäftigung.

Wie reagiert der EuGH? Er führt unterschiedliche Bestimmungen der Verträge zusammen, kombiniert sie neu und legt sie im Ergebnis so aus, dass damit der bislang unangefochtenen Souveränität der Mitgliedstaaten betreffend Fragen der inneren Organisation (etwa der Gerichte) Grenzen gesetzt werden: Kurz gefasst lautet das Argument, das Unionsrecht erfordert für seine Durchsetzung voll funktionsfähige und unabhängige Gerichte. Bestehen diese nicht (mehr), ist dies eine selbstständige Unionsrechtsverletzung jenseits der bloßen Altersdiskriminierung. Sie rechtfertigt auch den Erlass einer einstweiligen Anordnung – und damit letztlich auch Geldstrafen.

Judikatur verleiht Werten Gestalt

Diese Judikatur ist zutiefst revolutionär und mutig. Anstatt in der Krise zurückzuweichen, werden Lösungen durch eine weitere Vertiefung der Integrations- und Eingriffsdichte gefunden. Der EuGH tut das, wofür das Stimmrechtsentzugsverfahren gedacht wäre, was dieses aber nicht erreichen kann: Er verleiht den blumigen Werten des Artikels 2 EUV Gestalt und rechtsverbindlichen Gehalt und sichert ihre Einhaltung. Angesichts der mit der Nichtbefolgung der Urteile verbundenen Geldstrafen ist abzusehen, dass sich die Mitgliedstaaten dieser Judikatur, und damit der Herrschaft des Rechts, fügen werden – oder aus eigenem Antrieb aus der EU ausscheiden. Dies war auch in Polen so: Trotz allen politischen Getöses wurde die Umfärbung der Gerichte rückgängig gemacht.

Was eint Europa denn wirklich?

Was ist Ihre Meinung: Eint das Recht Europa oder doch andere Faktoren wie Politik, Kultur, Geschichte und dergleichen? Braucht es gemeinsame Werte? Welche Werte halten Sie für besonders wichtig? Wer sollte über ihre Einhaltung wachen und mit welchen Sanktionen? Sind rechtliche Maßnahmen das richtige Mittel? (Thomas Jaeger, 4.12.2018)