Wien – Die Justizanstalt Wien-Mittersteig ist jene Einrichtung, in der vornehmlich Menschen untergebracht sind, die zwar zurechnungsfähig, aus Sicht der psychiatrischen Sachverständigen aber wegen ihrer "geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad", wie es im Juristendeutsch heißt, gefährlich sind. Psychisch Kranke also, die eigentlich unter erhöhter Aufsicht stehen sollten. Ein Prozess in Wien zeigt, dass das im Juli ziemlich ignoriert worden ist.

Peter P. ist einer der Insassen am Mittersteig. 38 Jahre alt, verminderte Intelligenz, zehn Vorstrafen, darunter Gewaltdelikte. Vor Richter Stefan Erdei erscheint er, da er einen Mitpatienten gefährlich bedroht haben soll. Von dem Vorfall gibt es ein Video: Zu sehen ist, wie P. am 29. Juli im Gang an den offenen Zellentüren vorbei auf und abgeht. Und dabei beispielsweise die Tür von Kurt G. zuschlägt und, nachdem sie wieder offen ist, immer wieder in G.s Zelle hineingreift.

"Du feige Sau, komm raus"

Einen auf dem Gang stehenden anderen Mitpatienten provoziert der Angeklagte zweimal, indem er sich mit erhobenen Fäusten vor ihm postiert und Schlagbewegungen andeutet, die dieser Mann aber ignoriert. Herr G. hatte laut seiner Zeugenaussage mehr Angst: P. habe laut herumgebrüllt und ihn unter anderem aufgefordert: "Du feige Sau, komm raus, ich erschlag dich!" Dazu nahm er wieder aggressive Posen ein.

G. kam nicht, sondern machte seine Tür zu und drückte mehrmals den Alarmknopf – den der im Gang patrouillierende P. immer wieder von außen deaktivierte. Mindestens 30 Minuten dauert das Video – und in dieser Zeit ist kein einziger Justizwachebeamter zu sehen.

Kurt G. vermutet bei seiner Aussage, dass er noch länger allein gewesen ist. "Es war mindestens eine Dreiviertelstunde! Dann sind zwei gekommen, von einer Besprechung oder Feier, mit Torten in der Hand, denen habe ich es dann erzählt", schildert der eher zurückhaltende Herr.

Alles "Psychopathen"

Angeklagter P. fordert dagegen vehement einen Freispruch, da er gar nichts gemacht habe. Die Vorführung des Videos amüsiert ihn teilweise, dann zweifelt er dessen Authentizität an, dann sagt er, er habe damals nur Spaß gemacht. Und überhaupt seien die anderen Zelleninsassen alles "Psychopathen", tut er mehrmals und lautstark kund.

P. selbst wurde übrigens bei seinem vorigen Prozess von einem vielbeschäftigten Gutachter für zurechnungsfähig, aber gefährlich erklärt. Da P. sich weigert, mit Psychologen oder Psychiatern zu sprechen, hatte der Sachverständige ihn während der Verhandlung beobachtet und daraus seine Expertise erstellt. Für ein neues Gutachten sieht Erdei keinen Grund, er verurteilt P. rechtskräftig zu einer Zusatzstrafe von sechs Monaten unbedingt.

Allerdings hält auch Erdei es in seiner Urteilsbegründung für "nicht nachvollziehbar, warum mindestens eine halbe Stunde die Türen ohne Aufsicht offen gestanden sind".

Im Justizministerium braucht man dreieinhalb Wochen, um eine Anfrage des STANDARD zu dem Vorfall zu beantworten. An die vorgesetzten Stellen wurde die Angelegenheit nicht gemeldet, dass sei aber auch nicht vorgesehen, da niemand verletzt wurde, heißt es vonseiten der Pressestelle.

Ministerium widerspricht Zeugen

"Eine Abwesenheit von Wachebeamten für einen längeren Zeitraum aufgrund einer Besprechung oder Feier kann ausgeschlossen werden. Festgehalten wurde, dass ein Justizwachebediensteter einen anderen Insassen in der besagten Zeit des Vorfalles zu einer Medikamenteneinnahme eskortiert hat", dementiert das Ministerium die Aussage des Zeugen.

Warum auf den vom Insassen ausgelösten Alarm niemand reagiert hat, kann man sich nicht erklären, da selbst wenn das Abteilungszimmer unbesetzt ist, das Wachzimmer der Anstalt direkt alarmiert werden sollte. (Michael Möseneder, 03.01.2019)