Seyran Ateş warnt davor, dass radikale Muslime die Gesellschaft durchdringen, während Kopftuchdebatten geführt werden.

Foto: Imago / Zuma Press

Die liberale Muslimin Seyran Ateş plant nun nach Berlin auch in Wien eine liberale Moschee. Die Juristin wird seit zwölf Jahren rund um die Uhr von Personenschützern des Landeskriminalamts Berlin begleitet, weil sie für ihren Einsatz für Frauen- und Menschenrechte angefeindet und bedroht wird.

STANDARD: Sie haben im Vorjahr in Berlin eine liberale Moschee eröffnet, in der Frauen, Männer und auch Homosexuelle gemeinsam beten. Im Sommer haben Sie angekündigt, auch in Wien eine solche gründen zu wollen. Wie weit sind Sie?

Ateş: Es ist ein Work in Progress. Das wird klappen. Ich bin zuversichtlich. Es müssen noch viele Dinge im Hintergrund geklärt werden. Es gibt bereits Mitstreiter. Aber jeder, der Interesse hat, kann gern noch dazustoßen.

STANDARD: Wird die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) die liberale Moschee anerkennen?

Ateş: Das wird sicher ein Problempunkt. Meiner Ansicht nach muss das Islamgesetz reformiert werden. Dass die IGGÖ über mich und meine Arbeit für einen liberalen Islam nicht glücklich ist, ist ein offenes Geheimnis.

STANDARD: Warum gehen die Menschen, die für einen progressiven und toleranten Islam stehen, in der öffentlichen Wahrnehmung so unter?

Ateş: Sehr viele Menschen haben unglaubliche Angst vor dem ursprünglichen Heimatland, um in ihrem jetzigen Heimatland einen liberalen Islam zu leben. Viele Menschen, die sich für die Moschee engagiert haben, haben aufgegeben. Weil man uns nachsagt, dass wir eine Gülen-Moschee seien. Die Menschen haben Angst, wenn sie zu uns kommen, nicht mehr in die Türkei reisen zu können. Leute aus Ägypten haben Angst vor der Muslimbrüderschaft. Diejenigen, die einen konservativen oder fundamentalistischen Islam praktizieren, sind sehr laut. Sie haben viel mehr Ressourcen, Geld, Orte und Menschen, die sich in die Öffentlichkeit trauen. Die anderen, die einen liberalen Islam leben, sind nicht sichtbar. Musliminnen ohne Kopftuch werden nicht wahrgenommen.

STANDARD: Gibt es eine falsche Toleranz gegenüber dem Islam?

Ateş: Es gibt ein hochgradiges Versagen der Toleranz bei der Integration. Es gibt Toleranz gegenüber Menschen, die selbst überhaupt keine Toleranz besitzen. Es wird Freiheit eingefordert von Menschen, die nicht bereit sind, anderen Menschen Freiheit zu gewähren. Wir bieten Freiheit und Menschenrechte nach dem Erbe von Kant und Voltaire auf einem Silbertablett allen Menschen an, die hierherkommen. Viele sind dafür sehr dankbar und wissen, damit umzugehen. Andere berufen sich darauf, wenn sie ihren radikalen Islam und frauenfeindliche Praktiken einführen und die Frömmigkeit bei Kindern mehr fördern als Bildung. Es ist ein Problem, dass in konservativen Moscheen und Verbände Sätze fallen wie: "Die Demokratie ist für uns Muslime nicht akzeptabel. Wir wollen die Scharia."

STANDARD: Für diese Kritik an konservativen Muslimen werden Sie aus einem linken Spektrum und von Feministinnen kritisiert. Was antworten Sie darauf?

Ateş: Linken und vor allem Feministinnen attestiere ich, dass sie ihren politischen Verstand abgegeben haben, wenn es um den Islam und die Integration von Migranten geht. Die Gleichberechtigung der Geschlechter, LGBTQ, also die Anerkennung aller legalen sexuellen Orientierungen, und Religionsfreiheit sind die drei Themen, um die ich mich kümmere. Bei diesen Themen kämpfen Feministinnen gegen alle reaktionären Kräfte innerhalb ihres Lagers – also gegen die Rechten, die Konservativen oder die katholische Kirche. Da sind sie gnadenlos konsequent. Aber sobald es um diese Themen im Lager der Muslime geht, arbeiten sie mit Organisationen zusammen, die nicht bereit sind, diese Themen anzusprechen. Die Feministinnen fallen uns liberalen und progressiven Muslimen in den Rücken, wenn es um die Gleichberechtigung der Frauen und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung geht.

STANDARD: Österreich hat das Kopftuch in Kindergärten verboten. Wie kann ein Kopftuchverbot bei der Integration helfen?

Ateş: Das wird helfen. Weil es eine Haltung des Landes gegenüber dem Thema sichtbar macht. Das ist in den letzten Jahren nicht passiert. Die Haltung zu den Menschenrechten, der Gleichberechtigung der Geschlechter, wurde zwar erklärt, aber nicht eingefordert. Wir haben in Europa beschlossen, dass Kinder bis 14 Jahren nicht religionsmündig sind. Ich würde sogar sagen, erst mit der Volljährigkeit sollte ein Mädchen darüber entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen will oder nicht. Es geht auch um Kinderrechte und die Bewegungsfreiheit. Sie können kein Körpergefühl entwickeln, wenn sie sich ständig verhüllen müssen.

STANDARD: Haben durch das Nichteinfordern der eigenen demokratischen Werte die fundamentalistischen Muslime so einen Aufschwung erfahren?

Ateş: Die fundamentalistischen Strömungen sind vom Ausland finanziert. Während wir hier Diskussionen führen, ob das Kopftuch fremd- oder selbstbestimmt ist, agieren die Radikalen im Hintergrund und haben unzählige Bildungseinrichtungen eingerichtet, sodass sogar schon Kindergartenkinder von Kopftüchern betroffen sind. Das ist absurd und hat nichts mit dem Islam zu tun. In keiner Auslegung finden Sie eine Berechtigung für ein Kinderkopftuch. Der fundamentalistische Islam, der hier eingeführt wird über die Muslimbrüder, die Türkei oder Staaten der Arabischen Halbinsel, der ist so unübersehbar. Wir laufen wie Schnecken hinterher und sagen: "Entschuldige bitte, darf ich das kritisieren, dass bei euch Frauen und Männer in der Moschee getrennt sein müssen?"

STANDARD: Sie werden von Personenschützern begleitet. Mit welchen Anfeindungen aus welchem politischen Spektrum haben Sie zu kämpfen?

Ateş: Ich kämpfe gegen die konservativen Muslime, die keine andere Art der Religionsausübung akzeptieren als die eigene. Und vor allem gegen das Patriarchat. Es ist nicht so, dass mir der "Islamische Staat" oder die Boko Haram gedroht hätten. Die Beschimpfungen oder Presseerklärungen kommen von einfachen Leuten aus den sozialen Medien oder auch aus dem Iran, etwa über das Islamische Zentrum Hamburg, aus der Türkei oder von den Muslimbrüdern. Personenschutz bekomme ich, weil ich mich für Frauen- und Menschenrechte einsetze. Manche reagieren darauf so aggressiv, dass sie bereit wären, mich dafür zu töten. (Stefanie Ruep, 27.11.2018)