Mit unseren anthropologischen Untersuchungen rekonstruieren wir Einzelschicksale von prähistorischen und historischen Personen. Stehen für die Analyse viele Individuen einer Population zur Verfügung, können wir auch etwas über die Zusammensetzung dieser Bevölkerung in Hinblick auf das Sterbealter und das Geschlecht oder den Gesundheitszustand aussagen. Nur selten ist jedoch die Todesursache am Skelett erkennbar.
Tödliche Spuren?
Schon beim Auspacken und Auflegen eines Skeletts schweift unser Blick routinemäßig über alle Knochen, immer auf der Suche nach Besonderheiten, nach Krankheiten, nach Verletzungen. Bei gesplitterten Knochen oder ungewöhnlichen Löchern im Schädel beginnt die wirkliche Herausforderung. Umfassende Recherchen sind nun notwendig, um die möglichen Ursachen zu identifizieren und den Unfall- oder Tathergang zu rekonstruieren. Damit erhält man seltene, sehr persönliche Einblicke in das Leben eines Menschen längst vergangener Zeit. Es ist keine Frage, dass einem diese Schicksale nähergehen als jene von Menschen mit völlig unversehrtem Skelett.
Auf Biegen und Brechen
Bei der anthropologischen Untersuchung wird jeder zerbrochene Knochen genau geprüft: Handelt es sich um einen alten Bruch, der damals am frischen (vielleicht noch lebenden) Knochen entstand, oder handelt es sich um einen Bruch, der erst im Zuge der Bergung passierte? Das lässt sich an den Bruchflächen zumeist gut unterscheiden, da lange im Boden gelagerter Knochen weniger Kollagen enthält und dadurch anders zerbricht. Auch unterscheidet sich die Farbe der Bruchfläche, die bei neuen Brüchen heller ist als jene der umgebenden Oberflächen.
Untersucht wird auch, ob ein Knochen im Bruchbereich bereits Anzeichen von Heilung zeigt. Makroskopisch erkennbare Heilungsspuren treten an Knochen frühestens sieben Tage nach der Verletzung auf. Sind keine derartigen Heilungsspuren bei einem am frischen Knochen entstandenen Bruch zu erkennen, sprechen wir von "perimortalen", also um den Todeszeitpunkt entstandenen Verletzungen.
Gewalt bezeugen
Wenngleich aus anthropologischer Sicht unerfreulich, bedeutet "perimortal" aber natürlich nicht automatisch auch "todesursächlich". Es hängt von der Lokalisation einer Verletzung und deren Ausmaß ab, ob sie als Todesursache infrage kommt.
Gerade Verletzungen des Schädels sind häufig Spuren von tödlicher Gewalt, verursacht durch Schläge, Hiebe oder Schüsse. Diese sind im Allgemeinen lebensbedrohlicher als ein gewöhnlicher Langknochenbruch durch einen Sturz. Doch selbst ein verletzter Fußknochen ist verdächtig, wenn er keine Heilungsspuren aufweist. Steht dies in Zusammenhang mit dem Tod?
Eine Frage der Haltung
Tragisch war das Schicksal jenes jungen Mannes, der im 12./13. Jahrhundert n. Chr. in Gars/Thunau bestattet wurde. Maria Teschler-Nicola und Karin Wiltschke-Schrotta untersuchten seine Knochen, die in der anthropologischen Sammlung des NHM Wien aufbewahrt werden.
Zahlreiche Hiebspuren, die sich über den ganzen Körper verteilen, deuten auf einen Kampf vor dem Tod hin. Die Orientierung der Schnittflächen erlaubt sogar eine Rekonstruktion der Körperhaltung. Die Verletzungen im Fuß- und Beinbereich, die von seitlich unten erfolgten, weisen darauf hin, dass der Mann von einer niedrigeren Position aus angegriffen wurde. Die Schnittführung an seinem linken Knie bezeugt, dass dieses stark abgewinkelt war, als es fast vollständig durchtrennt wurde. Saß er auf einem Pferd?
Abwehrverletzungen an beiden Unterarmen sind Hinweise auf den folgenden Todeskampf am Boden. Drei Einschläge einer sehr scharfen Waffe sind am Schädeldach zu sehen, eine zusätzliche Schnittspur am zweiten Halswirbel. Schlussendlich wurden noch mindestens zwei massive Hiebe von hinten geführt, die den Kopf fast abschlugen, bevor der Angreifer schließlich von seinem Opfer abließ. Mehr als 800 Jahre danach werden wir nun indirekte Zeugen des letzten Kampfes dieses jungen Mannes. (Andrea Stadlmayr, Karin Wiltschke-Schrotta, 29.11.2018)