Für sein Engament als Anwalt des berühmtesten Whistleblowers der Welt zahlt Robert Tibbo einen hohen Preis.

Foto: Lindsay Mills

Tibbo und Snowden arbeiten nach wie vor zusammen.

Foto: Lindsay Mills

Robert Tibbo und sein Mandant Edward Snowden.

Foto: Lindsay Mills
Mit Edward Snowdens Schritt an die Öffentlichkeit hat alles begonnen.
DER STANDARD

Für Robert Tibbo gibt es ein Leben vor und eines nach Edward Snowden. Seit Ende der 1990er-Jahre lebte der Kanadier als erfolgreicher Anwalt in Hongkong. Neben seiner Karriere als Advokat der Hochfinanz machte sich Tibbo über die Jahre als Experte für Menschenrechte einen Namen. Er vertrat daneben zahlreiche Asylwerber in Hongkong und gewann so das Vertrauen dieser marginalisierten Gruppe. Doch all das änderte sich, als er im Juni 2013 einen Anruf erhielt mit der Bitte, den NSA-Whistleblower Snowden als Mandanten zu übernehmen.

Statt im Penthouse in Hongkong sitzt Tibbo heute in einem schmucklosen Häuschen irgendwo in Europa. Seinen Aufenthaltsort kennen nur Eingeweihte. Kontakt zur Außenwelt hält er über Laptop und Mobiltelefone, die ohne SIM-Karte auskommen. Wenn Tibbo über seinen Fall spricht, wandern die Handys ins Gefrierfach. Niemand soll mithören. Er wurde zum Gejagten, wirkt ständig nervös und ist notorisch misstrauisch. Nun hat er sich an Medien wie die New York Times, Paris Match und den STANDARD gewandt, um auf seine Lage aufmerksam zu machen.

"Zu viele Zufälle"

Grund für Tibbos Ausnahmezustand ist die Vielzahl vermeintlicher Zufälle, die sich seit 2016 zu seinem Nachteil ereignet haben. Man wolle ihn "beruflich und privat vernichten", ist er überzeugt. Er vermutet die Behörden Hongkongs hinter der konzertierten Racheaktion, "vielleicht auch noch andere Regierungen, aber das ist nur sehr schwer zu beweisen". Grund dafür sei seine Tätigkeit für Snowden.

Robert Tibbo erzählt seine Geschichte.
DER STANDARD

Beobachter wie der kanadische Anwalt Pascal Paradis von der NGO Lawyers Without Borders (LWB), die sich eingehend mit Tibbos Fall befasst hat, sprechen von "zu vielen Zufällen". Denn seit im September 2016 in Hongkong die näheren Umstände zu Snowdens Flucht bekanntgeworden sind, zieht sich die Schlinge um Tibbos Hals immer mehr zu. Dass ihn auch die Hongkonger Bar Association, also die Anwaltskammer, seit damals attackiert, bezeichnet Paradis als "besorgniserregend". Die Bar ließ ihn von zwei "anonymen Beschwerden" von "großen Gruppen enttäuschter Anwälte" wissen.

"Irritierendes Vorgehen"

Diese werfen Tibbo vor, mit seinem Engagement für Snowden dem Berufsstand wie auch seinem Mandanten geschadet zu haben. Im selben Atemzug verlangte die Bar von Tibbo nähere Auskünfte zu seiner Tätigkeit für den Whistleblower. "Irritierend" nennt Paradis dieses Vorgehen: "Schließlich ist das Verhältnis zwischen Anwalt und Klient vertraulich."

Noch deutlicher wird der kanadische Anwalt John Cameron QC, der selbst jahrelang hochrangiges Mitglied der Bar in Nova Scotia war und Tibbos Fall kennt: "Als Vorsitzender einer Bar würde ich eine solche anonyme Beschwerde sofort in den Müll werfen." Es sei schwer zu glauben, dass dahinter kein politisches Kalkül stecke, sagt Cameron: "Das sind einfach zu viele Zufälle."

Die Bar selbst weist jegliche Kritik entschieden zurück. Der stellvertretende Vorsitzende Robert Pang hält fest, dass er nur von einer anonymen Beschwerde gegen Tibbo wisse. Diese langte zufällig am 9. September 2016 bei der Bar ein. Just an jenem Tag feierte auch Oliver Stones Dokudrama "Snowden", in dem die Flucht des Whistleblowers Thema ist, Kinopremiere. Pang merkt wiederum an, dass es noch weitere Beschwerden gegen Tibbo wegen seiner Tätigkeit für Snowden gebe. Davon wusste wiederum der Kanadier bislang nichts.

Flüchtlinge im Visier

Doch nicht nur die Bar agiert seit 2016 auffallend gegen Tibbo. So wurden die Fälle der sieben sogenannten Snowden-Flüchtlinge, die den Whistleblower 2013 in Hongkong versteckt hatten und denen seither jegliche Form der staatlichen Unterstützung gestrichen wurde, seitdem so behandelt, als gehörten sie zusammen. Dabei ist die einzige Gemeinsamkeit, Tibbo als Anwalt zu haben.

Ebenfalls zeitgleich überschüttete man ihn mit Arbeit und forderte ihn auf, mehr als 40 seiner Fälle, die jahrelang durch Bürokratie verschleppt worden waren, umgehend zu bearbeiten. "Nur um kurz darauf neue Beschwerden gegen ihn bei der Bar vorzubringen, dass er ebendiese Fälle nicht zeitgerecht bearbeiten würde.

Nachfragen bei den Behörden in Hongkong gestalten sich indes schwierig. Erreicht man jemanden, so lautet die erste Bedingung meist, dass alle Gesprächsinhalte vertraulich zu behandeln seien. Und selbst dann sind die Rollen nicht klar verteilt. Denn anstatt Fragen zu beantworten, werden in erster Linie Fragen gestellt. Das ging so weit, dass die Beamten wissen wollten, wo sich Tibbo im Moment aufhalte, wo man sich selbst befinde und welche Personen von welchen Medien mit welcher Absicht an dem Artikel arbeiten.

Angesichts des zunehmenden Drucks durch die Behörden auf ihn wie auch seine Mandanten wandte sich Tibbo 2016 an eine Gruppe junger, kanadischer Anwälte in Montreal. Sie sagten ihm bei der Unterstützung der "Snowden-Seven" Hilfe zu. Die Hilfsorganisation For the Refugees wurde ins Leben gerufen.

"Die Dinge wurden eigenartig"

Marc-André Séguin war einer der Mitbegründer. Der auf Einwanderungs- und Wirtschaftsrecht spezialisierte Jurist kennt Tibbo "seit Jahren". Von der Geschichte rund um Snowden und die Flüchtlinge habe er aber auch erst erfahren, kurz bevor sie öffentlich wurde. Kaum hatte er sich der Mithilfe verschrieben, seien "die Dinge eigenartig geworden".

Anstatt zu helfen, seien die Behörden den Flüchtlingen und auch Tibbo mit großen Vorbehalten begegnet, erzählt Séguin: "Wir fingen an, uns Sorgen zu machen. Um die Mandanten und um Robert." Dass ein renommierter kanadischer Jurist derart unter Druck geraten könne allein dafür, seiner Arbeit nachzugehen, sei "verstörend". "Was heißt das für Asylwerber, die ohnehin kaum gehört werden?", führt Séguin den Gedanken fort.

Dass auch er selbst durch sein Engagement in den Fokus der Behörden Hongkongs geriet, bekam Séguin im Sommer 2017 zu spüren. "Ich reiste unangekündigt mit einem Kollegen in die Stadt, trotzdem wurden wir kaum eine Stunde nach der Landung bereits von zwei Zivilpolizisten verfolgt", erzählt der Anwalt. Die Situation sei beunruhigend gewesen. "Sie sind uns bis auf das Dach eines Wohngebäudes gefolgt." Als sie derart in flagranti erwischt wurden, hätten die Polizisten sich plötzlich als solche zu erkennen geben und behauptet, nach einem "chinesisch aussehenden Mann" zu suchen.

Ausreise nach Kanada ermöglichen

Letztlich sei es eine Vielzahl ähnlicher "Zufälle" gewesen, die Séguin und seine Kollegen stutzig machten. Um die Sicherheit der sieben Flüchtlinge zu gewährleisten, stellten die Anwälte Asylanträge für sie in Kanada: "Denn diese Menschen sind in Hongkong offenbar nicht sicher. Es ist ein enormer Aufwand, sie hier zu versorgen. Daher hätten wir in Kanada bereits alles für sie arrangiert", sagt Séguin, "Wohnung, Arbeit, Schule, kein Cent Steuergeld wäre nötig." Das kanadische Einwanderungsrecht sei zwar sehr kompliziert, dennoch wundere er sich, warum die Ansuchen der sieben Flüchtlinge nicht rascher behandelt werden.

Zwar sicherte der kanadische Einwanderungsminister Ahmed Hussen erst eine schnelle Bearbeitung der Fälle zu, doch Mitte 2017 schwenkte er plötzlich um. Alle Anträge würden fair und gleichwertig behandelt, hieß es nun. Das bedeutet eine Wartezeit von rund 52 Monaten. Zeit, die sie nicht haben. Denn alle sieben Asylverfahren wurden mittlerweile negativ beschieden. Keine Überraschung für die Juristen, schließlich liegt die Anerkennungsrate von Asylwerbern in Hongkong bei unter einem Prozent.

Séguin findet ob der Verzögerungstaktik auf kanadischer Seite deutliche Worte: "Diese Menschen sind in Lebensgefahr." Wenn es zu lange dauert, bis ihnen eine Ausreise ermöglicht werde, sei zu befürchten, dass sie einfach verschwinden. Auf die Anfrage, warum man sich plötzlich umentschieden habe, war seitens der kanadischen Behörde bis Redaktionsschluss keine Antwort zu erhalten.

Während auf der einen Seite die Juristen für ihre Mandanten kämpften, versuchte man genau dies auf der anderen Seite zu verhindern. Die Einwanderungsbehörde erklärte Tibbos Mandanten wiederholt, dass dieser sich nicht um sie kümmern würde. Für Paradis mit der absurdeste Vorwurf: "Das Verhältnis zwischen Tibbo und seinen Mandanten ist außergewöhnlich eng und vertrauensvoll." In zahllosen Gesprächen mit Flüchtlingen, die Tibbo vertritt, sei nicht eine Beschwerde vorgebracht worden: "Sie lieben ihn."

Zeugen wurden festgenommen

So wie Vanessa Rodel, philippinische Asylwerberin, die Snowden bei sich versteckte und die Tibbo seit 2012 vertritt. Sie warnte ihn im Herbst 2017, dass die Hongkonger Polizei nach ihm suche. Hintergrund waren Vorwürfe Tibbos gegen die Behörden, weil die offenbar Ende 2016 Häschern der für Folter berüchtigten Kriminalpolizei Sri Lankas erlaubt hatte, in Hongkong nach jenen fünf Snowden-Flüchtlingen zu suchen, die aus Sri Lanka stammen. Anstatt dem nachzugehen, jagte die Hongkonger Polizei aber die Zeugen.

Einer von ihnen war Ranjith Keerti, der aus Sri Lanka stammt und seit über 20 Jahren in Hongkong lebt. Die Beamten aus seinem Heimatland suchten in der sri-lankischen Community Hongkongs nach den Snowden-Flüchtlingen. Keerti kannte eine der Familien und warnte sie umgehend. Doch anstatt ihn als Zeugen einzuvernehmen, wie Tibbo forderte, nahm ihn die Hongkonger Polizei kurzfristig fest und befragte ihn ausschließlich zu Snowden.

Dasselbe passierte auch anderen Mandanten Tibbos. Sie wurden aufgefordert, tunlichst alles zum Whistleblower preiszugeben. Schließlich nahm die Polizei Tibbo selbst ins Visier und bezichtigte ihn der Lüge sowie Anstiftung zur Falschaussage. Da wusste Tibbo, dass es Zeit war, die Stadt zu verlassen.

Flucht mit Begleitschutz

Diesen Eindruck bestätigt Paradis von LWB, der zu dieser Zeit in Hongkong war: "Der Druck auf ihn wuchs, und es bestand eine gewisse Gefahr." Man riet Tibbo zur sofortigen Ausreise. In Begleitung von Paradis sowie einem weiteren Mitarbeiter von LWB verließ er Ende November 2017 fluchtartig die Stadt. Rodel begleitete ihren Anwalt auf dem Weg zum Flughafen: "Die Stimmung war sehr angespannt. Zwei Offizielle des kanadischen Konsulats waren zum Schutz mit dabei, einer begleitete Robert bis zum Flugzeug."

Für Rodel sei es ein trauriger Abschied gewesen, wie sie erzählt. Denn juristische Unterstützung für Asylwerber ist in Hongkong kein Karrieresprungbrett, daher fänden sich nur selten engagierte Anwälte für diese Aufgabe. Tibbo sei dahingehend eine Ausnahme, sagt die junge Frau, die mit ihrer sechsjährigen Tochter ihr Auskommen sucht. Keine leichte Aufgabe, denn ihr wurde sämtliche Unterstützung gestrichen, und jegliche Form der Arbeit ist Asylwerbern in Hongkong bei Strafe verboten.

Trotz ihrer prekären Lebenssituation bereue sie nicht, Snowden versteckt zu haben, sagt die Alleinerzieherin. "Ich würde es wieder tun. Denn ich bin stolz auf mich, dem meistgesuchten Mann der Welt geholfen zu haben." Dass ihr Anwalt Tibbo ihre Gutmütigkeit für seinen prominenten Klienten ausgenutzt haben könnte, weist Rodel entschieden zurück: "Robert ist ein sehr guter Mensch, der für uns kämpft."

Doch seit seiner unfreiwilligen Ausreise Ende November 2017 kam Tibbo nicht mehr zurück nach Hongkong. Mittlerweile hat er durch seine erzwungene Abwesenheit mehr als 90 Prozent seiner Mandanten verloren. Er fürchtet um deren Sicherheit und fühlt sich machtlos. Als sein Rechtsberater fungiert mittlerweile Geoffrey Robertson QC in London, der schon Wikileaks-Gründer Julian Assange verteidigt hat. Robertson weist auf die Gefahren hin, die daraus erwachsen, wenn Anwälte derart unter Druck geraten. In Tibbos Fall vermutet auch er, dass das Vorgehen gegen ihn mit seinem Engagement für Snowden zu tun hat. (Steffen Arora, 28.11.2018)