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Incels sind überzeugt: Für Sex wollen Frauen nur "Alpha-Männer", muskulös und mit besonders männlichen Gesichtszügen.

Foto: Reuters/ALY SONG

Am 2. November gegen halb sechs Uhr abends betrat Scott Beierle ein Yoga-Studio in Tallahassee, Florida. Der 40-Jährige gab sich als Kunde des Studios aus, marschierte in einen der Trainingsräume und zog dort eine Pistole aus seiner Tasche. Ohne Vorwarnung begann er auf die KursteilnehmerInnen zu schießen, zwei Frauen tötete er an Ort und Stelle, vier weitere Menschen verletzte er schwer. Hätten sich Einzelne dem Attentäter nicht entgegengestellt – ein Student griff zu einem Staubsauger und einem Besen und schlug auf ihn ein –, hätte Beierle wohl noch mehr Menschen ermordet.

Attentate wie dieses passieren nahezu täglich in den USA, die TäterInnen sind fast ausschließlich Männer. Im Fall von Scott Beierle berichteten US-Medien von Videos, die er 2014 auf Youtube veröffentlicht hatte. Darin verbreitete er rassistische, homofeindliche und frauenfeindliche Ideen, immer wieder beschwerte er sich über Zurückweisung durch Frauen. In einem der Videos fiel der Name Elliot Rodger. Beierle verglich sein jüngeres Ich mit jenem Massenmörder, der 2014 im kalifornischen Isla Vista sechs Menschen getötet und weitere 13 verletzt hatte. Sein Motiv legte Rodger in einem 141 Seiten umfassenden "Manifest" dar: Er wollte Rache üben an Frauen, die ihm, dem "perfekten Gentleman", sein Leben lang Sex vorenthalten hätten, der 22-Jährige fantasierte von Konzentrationslagern, in denen er Frauen genüsslich beim Sterben zusehen wolle. Wie auch Scott Beierle tötete er sich selbst, bevor ihn die Polizei überwältigen konnte.

Saint Elliot

In Teilen der Incel-Community wird Rodger bis heute als Held gefeiert – im Netz kursieren Bilder, auf denen er mit Heiligenschein zu sehen ist. Elliot Rodger, Schutzpatron der Incels. "Incel" steht für "involuntary celibate", also unfreiwillig Enthaltsame, die darunter leiden, keinen Sex, keine Liebesbeziehung zu haben. In ihrer radikalen Ausformung sind es Hetero-Männer, die der Selbsthass und ein unbändiger Hass auf Frauen antreiben und die sich eine Welt aus obskuren Theorien zusammengezimmert haben, erklärt Debbie Ging. Die irische Kommunikationswissenschafterin forscht zu Männerrechtsbewegungen und Hass im Netz und hat auch die Geschlechterbilder der Incels untersucht.

Es ist ein Online-Phänomen, dessen Entstehung Ging in den USA und Kanada verortet, das sich mittlerweile aber über den gesamten englischsprachigen Raum und darüber hinaus verbreitet habe. "Incels stützen sich auf halbgare Theorien aus der Evolutionspsychologie. Frauen würden immer nach oben heiraten und deshalb 'Alpha-Männer' bevorzugen, mit 'Beta-Männern' ließen sie sich nur ein, um ihre Rechnungen zu bezahlen", sagt Ging im STANDARD-Interview. Was einen Alpha-Mann definiert, machen Incels unter anderem genetisch fest: Sogenannte Chads sind muskulös und weisen besonders männliche Gesichtszüge auf – und würden im Gegensatz zu "Normies" von Frauen als Sexualpartner begehrt. Das Gegenüber der Chads nennt sich Stacey, sie ist Objekt der männlichen Begierde und wird als langhaarige, blonde Frau mit "natürlichen Kurven" und knappem Outfit imaginiert, der alle Wünsche erfüllt würden. Da in dieser Theorie 20 Prozent der Männer 80 Prozent des Sex zukommen würden, wird "erzwungene Monogamie" als ein Ausweg gesehen.

Treffpunkt Hassforum

Reddit verbannte im vergangenen Jahr eine Community mit rund 40.000 Mitgliedern, in der Incels Vergewaltigungsfantasien austauschten und Frauen nur noch als "Femoide" bezeichneten. Schließt ein Forum, finden sich die Incels anderenorts zusammen. Der Frauenhass verbindet sie mit anderen Gruppen der "Manosphere": antifeministischen Maskulinisten, die den vermeintlichen Verlust der weißen männlichen Vorherrschaft beklagen. "Incels machen unter anderem körperliche Unzulänglichkeiten für ihre sexuellen Misserfolge verantwortlich – niemals ihre misogynen Haltungen Frauen gegenüber", sagt Kommunikationswissenschafterin Ging.

Als Incel gab sich im April dieses Jahres ein weiterer Attentäter zu erkennen: Der 25-jährige Alek Minassian fuhr in Toronto mit einem Lieferwagen in eine Menschenmasse, er tötete zehn Menschen und verletzte weitere 16 – überwiegend Frauen. "The Incel Rebellion has already begun! We will overthrow all the Chads and Stacys!", postete er zuvor auf Facebook. Ein Polizeibeamter konnte Minassian wenige Minuten nach der Amokfahrt überwältigen, laut Angaben seines Anwalts wird der Prozess gegen ihn in zehn bis 15 Monaten beginnen.

Auch Alek Minassian wird in der radikalen Incel-Szene gefeiert, weiß Andreas Hechler. Hechler ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Bildungsreferent beim Berliner Institut Dissens tätig und hat sich auf Jungenarbeit, Antifeminismus und die extreme Rechte spezialisiert. "Minassian wird dafür verehrt, dass er das Anliegen der Incels einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht hat", sagt Hechler. Weltweit berichteten Medien im Frühjahr über die Amokfahrt und die hasserfüllte und gewaltverherrlichende Welt der Incels. Der radikale Kern sei aber nur eine Subszene innerhalb der Incels, betont der Pädagoge.

Solidarität statt Menschenhass

Geprägt wurde der Begriff von einer kanadischen Studentin, die in den 1990er-Jahren "Alana's Involuntary Celibacy Project" ins Leben rief, eine einfache Website und eine Mailingliste betrieb. Schüchterne Menschen, queere Personen und Heteros, Frustrierte und Optimisten fanden dort zusammen, Alana verlor das Interesse und übergab die Seite an eine andere Person. Erst Jahre später erfuhr sie per Zufall von der Radikalisierung der Incels, wie sie in Interviews erzählte. Sich in Foren auszutauschen, sich gegenseitig zu unterstützen – eigentlich eine gute Sache, meint Andreas Hechler.

In Deutschland existiert etwa der "Absolute Beginner Treff", ein Forum für "Menschen, die unfreiwillig keine oder nur geringe Beziehungserfahrungen machen konnten", es wird von einem ModeratorInnen-Team verwaltet und gestaltet sich entsprechend harmlos. Gefährlich wird es dort, wo Menschen andere für ihren Frust verantwortlich machen und in einem geschlossenen, unmoderierten Raum aufeinandertreffen. "In solchen Foren unterstützen sich heterosexuelle Männer gegenseitig in ihrer misogynen Weltsicht, das kann zu einer raschen Radikalisierung führen", sagt Hechler.

Massenphänomen Beziehungsgewalt

Auch wenn es im deutschsprachigen Raum bisher keine Attentate gab, die von selbstdeklarierten Incels begangen wurden – ähnliche Muster und Motive finden sich auch hier. So tötete der 17-jährige Tim Kretschmer 2009 in Winnenden 15 Menschen, elf der zwölf Opfer in seiner Schule waren Mädchen und Frauen. Auch Femiziden und Tötungsversuchen in Beziehungen geht oft Zurückweisung in Form einer Trennung voraus. Ein Umstand, der sich als Auftrag an PädagogInnen insbesondere in der Jungenarbeit interpretieren lässt. "Jungen müssen von klein auf lernen, mit Frustration umzugehen. Und wir müssen die Botschaft vermitteln: Es gibt kein Recht auf Sex mit irgendwem", sagt Hechler. Empathiefähigkeit, Kommunikation, lernen, in Beziehung zu sich und den anderen zu treten – Inhalte, die auf jeden Lehrplan gehörten. Politik und Wissenschaft würden bisher allerdings unzureichend auf das Phänomen reagieren, meint Hechler. Ein Monitoring spezifischer Hassformen im Netz, die sich gegen Frauen richten, fehlt, Präventionsarbeit gestaltet sich in Deutschland wie Österreich äußerst lückenhaft.

"Männer, die meinen, einen Anspruch auf Sex zu haben, und wütend werden, wenn sie ihn nicht bekommen, sind nichts Neues. Sie haben jetzt nur eine Pseudophilosophie gefunden, an der sie sich festhalten können", sagt Kommunikationswissenschafterin Debbie Ging. "Wenn wir Frauenhass, Antifeminismus und patriarchale Strukturen nicht umfassend bekämpfen, wird das Phänomen auch nicht verschwinden." (Brigitte Theißl, 2.12.2018)