Beeindruckende Doku von Bernadett Tuza-Richter: "A Woman Captured".


Foto: This Human World

Wien – Schon das Pflücken einer Blume kann ein Akt des Widerstands sein. Und, wie die aufwühlende Geschichte von Marish zeigt, kann auch diese kleine Grenzüberschreitung nicht leicht von der Hand gehen. In einer unauffälligen ungarischen Siedlung führt Marish ein modernes Sklavendasein. Zwölf Stunden arbeitet sie täglich in einer Fabrik, ihren Lohn muss sie bei Eta, einer älteren Dame mit grelllackierten Fingernägeln, abliefern, für deren Haushalt sie ebenfalls verantwortlich ist. Als Gegenleistung erhält sie Essensreste, Tabak und eine Couch zum Schlafen. Nach einem Arbeitstag reicht ihre Kraft kaum noch, um bei einer Hauseinfahrt ein paar Blumen mitgehen zu lassen. Wenn es ihr doch gelingt, huscht ein mädchenhaftes Grinsen über ihr vergreistes Gesicht.

Bernadett Tuza-Ritter hat Marish für ihren ersten Langfilm A Woman Captured über mehrere Monate begleitet. Das Ergebnis, zu sehen bei This Human World, erzählt nicht nur von einem ungeahndeten Verbrechen und einer individuellen Befreiung, sondern wirft zwangsweise auch Fragen nach dem Verhältnis zwischen Filmschaffenden und Porträtierten auf.

Ganz nah holt Tuza-Ritter das zerfurchte Gesicht von Marish mit der Kamera heran. Eta, die im Laufe der Zeit für die Dreharbeiten Geld verlangte, und ihre Kinder werden so zu verschwommenen Randfiguren, das Haus zu einem konturlosen Gefängnis. Die Nähe beschränkt sich nicht auf die Bildebene: Einmal bezeichnet Marish die Filmemacherin als die einzige Person, der sie vertrauen kann. Später, als sie sich entschlossen hat, aus den menschenunwürdigen Verhältnissen zu fliehen, äußert sie immer wieder die Angst, Tuza-Ritter könne sie verraten. Ihren wahren Namen gibt sie in einer letzten Offenbarung jedoch erst zum Schluss preis.

Vom Leben gezeichnet

Wieweit ihre Flucht, die dem Film zusätzliche Dramatik verleiht, erst durch die Dreharbeiten angestoßen wurde, muss offenbleiben. Auch von ihrem früheren Leben erfährt man wenig. Eine Tochter, die ebenfalls von Eta ausgebeutet wurde, konnte etwa vor wenigen Jahren in ein Heim flüchten. Ältere Kinder gibt es auch, diese wissen jedoch nichts vom Leben ihrer Mutter. Der überraschendste Moment ist, als sie Fotos aus jenem Jahr zeigt, in dem sie für ihre Peinigerin zu arbeiten begonnen hatte: 42 Jahre sei sie damals alt gewesen, elf Jahre ist das Foto alt. Wenn man die zierliche Frau auf dem Bild mit der heutigen Marish, zahnlos und vom Alltag gezeichnet, vergleicht, scheint ein ganzes Menschleben seit der Aufnahme vergangen zu sein.

Im Rahmen der Vorstellung bei This Human World, das in seiner elften Ausgabe rund 100 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme zu den Themen Menschenrechte und Grundfreiheiten im Gartenbaukino, Stadtkino, Filmcasino, Top Kino und Schikaneder zeigt, wird auch Bernadett Tuza-Ritter für eine anschließende Diskussion anwesend sein.

Eröffnet wird das Festival am 29. November mit Mohamed Siams Amal, dem Porträt eines 15-jährigen Mädchens, das als Bub verkleidet während des Arabischen Frühlings an den Protesten am Tahrir-Platz teilnimmt. (Dorian Waller, 27. 11. 2018)