Grenzverschiebung: Auch "Io + gatto", ein doppelt belichtetes Selbstporträt mit Katze von Wanda Wulz (frühe 1930er-Jahren), wird in "Tier werden" gewürdigt.

Foto: ESTATE OF WANDA WULZ. COURTESY RACCOLTE MUSEALI FRATELLI ALINARI (RMFA),

Haben Sie schon einmal einen "zutraulichen Astgabler" gesehen? Ein "Kräuselküken" oder einen "Ballonblässling?" All diese gefiederten Freunde gibt es nämlich, jedenfalls in der Kunst, in der Literatur und vor allem in Teresa Präauers allererster Buchpublikation "Taubenbriefe von Stummen an anderer Vögel Küken" aus dem Jahr 2009. Als die 1979 in Linz geborene Autorin und bildende Künstlerin vor 20 Jahren ihren Erstling mit Zeichnungen und Texten in der Edition Krill vorlegte, hatte sie ihr malerisches Werk schon in Ausstellungen in Dresden, Salzburg und Düsseldorf gezeigt. Später illustrierte sie Wolf Haas' Kinderbuch "Die Gans im Gegenteil" und sorgte mit Romanen wie Für den "Herrscher aus Übersee", "Johnny und Jean" sowie "Oh Schimmi" als Schriftstellerin für Aufsehen. Nicht nur in Österreich.

Wandelbares Federvieh

Vor zwei Jahren war Teresa Präauer Gastprofessorin an der FU Berlin, wo sie auch eine Vorlesung hielt. Dieser Tage ist nun der auf der Vorlesung beruhende Langessay "Tier werden" (Wallstein, € 18,50) erschienen. Sein Titel überrascht nicht, denn immer wieder fliegt und hüpft Federvieh aller Art durch Präauers Bücher. Und Schimmi, eine Mischung aus Tunichtgut und reinem Tor aus ihrem letzten Roman, begibt sich im Affenkostüm auf die Jagd nach der angebeteten Ninni.

Es erstaunt nun aber doch, mit welcher Leichtigkeit und Stringenz Präauer die ihr Werk grundierenden Motive wie Wandlung, Sprachjagd und Antirealismus in diesem Essay aufnimmt und verknüpft. Der geistesgeschichtliche Bogen, den sie dabei spannt, ist beträchtlich. Er reicht von Ovid, in dessen "Metamorphosen" nichts festgeschrieben ist, sondern alles immer nur wird, bis zu den "Tausend Plateaus" von Deleuze/ Guattari, in denen das "Tier-Werden" neben dem "Intensiv-Werden" und dem "Unwahrnehmbar-Werden" nur eine Form des Werdens ist.

Das Zwischenreich des Uneindeutigen, der Verwandlung, des Übergangs von Fiktion zu Realität und umgekehrt illustriert die Autorin an zahlreichen Beispielen. Etwa am Fabelwesen Harpyie, einer Mischung aus Frau und Vogel, aus Vergils "Aeneis". Ihre Existenz galt in zoologischen Werken bis ins 17. Jahrhundert als gesichert – weil sie in Literatur vorkommt, und weil es Bilder (u. a. vom Kupferstecher Merian) von ihr gibt.

Spielregeln der Fiktion

Der Essay "Tier werden" ist eine lohnende Lektüre, weil er den präzisen Blick der bildenden Künstlerin mit den weitgefächerten Lektüren der Autorin Präauer verbindet. So werden etwa John Berger und Nabokov ebenso ausgiebig zitiert wie die Werke von Maria Lassnig, Hieronymus Bosch oder die Fotografien von Charles Fréger und William Wegman einer Analyse unterzogen werden.

"Was außerhalb der Erfahrung steht, aber nicht außerhalb der Vorstellung", schreibt Teresa Präauer, "markiert den Rand der Welt. Bis an diese Weltgrenze dehnen sich die Grenzen meiner Sprache aus, von denen auch Wittgenstein sprach." Und weiter: "Kein Name ist bekannt, ein Name wird gegeben. Das Erlebte und das Erfundene, sie bauen zusammen ein Drittes, dessen riskante Existenz nur Bestand hat, solange die Menschen bereit sind, sich beim Zuhören, Schauen und Lesen etwas vorzustellen und sich damit auf die Spielregeln der Fiktion einzulassen, die alles in diese Spannung versetzt." (Stefan Gmünder, 29. 11. 2018)