Löhne sind der Preis des wichtigsten und meistgehandelten Guts innerhalb des kapitalistischen Systems: Arbeit. Führen niedrigere Mindestlöhne zu mehr oder weniger Arbeit?

Foto: APA/Sebastian Kahnert

Monika Köppl-Turyna behauptet im Kommentar der anderen (siehe "Der Mindestlohn ist Frauen keine Hilfe"), "die Folgen des gesetzlichen Mindestlohns würden zu einer drastischen Erhöhung der Arbeitslosigkeit führen". Ein zu hoher Mindestlohn verringere die Armut nicht, sondern erhöhe sie noch, insbesondere bei Frauen. Dies habe man im Falle Deutschlands nach der Einführung eines Mindestlohns von 8,84 Euro pro Stunde zwar nicht gesehen, aber ab 7,50 Euro gehe es mit der Beschäftigung bergab. Warum eigentlich gerade ab 7,50 Euro? Habe ich den Beleg dafür einfach übersehen, oder ist das bloß die geheime Glückszahl der Agenda Austria?

Uraltes Mantra

Die Idee, dass höhere Mindestlöhne automatisch zu höherer Arbeitslosigkeit führen, ist uralt – richtiger wird die Wiederholung dieses Mantras dadurch trotzdem nicht. Bereits 1936 beschrieb John Maynard Keynes in seiner "Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" mehrere Gründe, warum eine Senkung der Löhne nicht zu höherer Beschäftigung führen wird.

  • Eine Verringerung des Lohns hat eine direkte Verringerung der aggregierten Nachfrage zur Folge. Es werden weniger Güter und Dienstleistungen verkauft, und dementsprechend kann es sogar zu höherer Arbeitslosigkeit kommen. Diese niedrigere Nachfrage kann eventuell kurzfristig über höhere Privatverschuldung stabilisiert werden, langfristig ist dies aber keine Lösung für höhere Lohneinkommen.
  • Löhne sind der Preis des wichtigsten und meistgehandelten Guts innerhalb des kapitalistischen Systems: Arbeit. Arbeiterinnen und Arbeiter können nur einer Kürzung ihrer Nominallöhne, nicht der Reallöhne zustimmen. Die Entwicklung der Reallöhne hängt wieder vom allgemeinen Preisniveau ab. Wenn die Löhne in allen Branchen gesenkt werden, wird das allgemeine Preisniveau ebenfalls sinken. Die Produktionskosten bleiben nach der Lohnsenkung in etwa genauso hoch wie vor der Lohnsenkung. Es gibt dadurch wenige bis gar keine Gründe dafür, plötzlich mehr Arbeiterinnen und Arbeiter einzustellen als vor der Lohnsenkung.
  • Wenn Kapitalisten glauben, die Löhne werden morgen noch niedriger sein als heute, dann werden sie mit Investitionen in Maschinerie (Kapitalstock) bis morgen warten, da deren Produktionskosten morgen geringer sind. Wenn alle davon überzeugt sind, dass die Niedriglohnpolitik weiter fortgesetzt wird, werden die Investitionen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben – ein sich selbstverstärkender Prozess.
  • Sinken die Löhne, so kann das zu einem Sinken des Preisniveaus (Deflation) führen. Dies ist vor allem in Ländern mit hoher Privatverschuldung ein besonders schwerwiegendes Problem, da die realen Schulden bei niedrigeren Preisen höher werden. Mit niedrigerem Einkommen müssen plötzlich höhere Schulden zurückgezahlt werden, was mehr Firmen und Haushalte in den Bankrott treiben kann. In den USA oder Südeuropa im Zuge der jetzigen Finanz- und Wirtschaftskrise war genau das der Fall.

Keynes war aus diesen Gründen der Ansicht, dass kapitalistische Ökonomien keineswegs auf natürliche Art und Weise "selbstkorrigierend" wirken. Eine Verringerung von Löhnen und Preisen wird stattdessen zu einer Verschlechterung der volkswirtschaftlichen Situation mit niedrigerer Produktion und höherer Arbeitslosigkeit führen. Niedrigere Löhne mögen einem einzelnen Unternehmen durchaus helfen, der Volkswirtschaft als Ganzer aber nicht unbedingt – Volkswirtschaften funktionieren eben nicht wie Unternehmen.

Auch empirisch nicht hinreichend belegt

Und wie sieht es mit empirischen Studien zu diesem Thema aus? Es gibt hunderte dazu. Wie in jedem anderen wissenschaftlichen Feld besteht auch in der Volkswirtschaftslehre das Problem, dass man nicht mehr weiß, welchen der publizierten Studien man denn Glauben schenken soll. Andere Wissenschaften wie Medizin oder Psychologie benutzen hierfür längst sogenannte Metaanalysen – Ergebnisse dutzender Studien werden gesammelt, vergleichbar gemacht und auf etwaige zugrunde liegende Effekte studiert.

Zum eventuellen Zusammenhang zwischen Mindestlöhnen und Arbeitslosigkeit gibt es derzeit vier Metaanalysen von David Card, Alan B. Krueger; Hristos Doucouliagos, T. D. Stanley; Megan de Linde Leonard, T. D. Stanley, Hristos Doucouliagos sowie Marco Hafner, Jirka Taylor, Paulina Pankowska, Martin Stepanek, Shanthi Nataraj, Christian Van Stolk. Drei davon finden keinerlei statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Mindestlöhnen und Beschäftigung. Die vierte Studie findet zwar einen statistisch signifikanten negativen Zusammenhang, allerdings von so winziger Größe, dass dieser ökonomisch zu vernachlässigen sei. Im Falle von USA-bezogenen Studien finden zwei dieser vier Studien sogar Indizien für Publikationsbias – also eine systematische Verzerrung der geschätzten Ergebnisse –, welche den Trugschluss eines negativen Zusammenhangs zwischen höheren Mindestlöhnen und höherer Arbeitslosigkeit entstehen lassen.

Es gibt weder theoretisch noch empirisch hinreichend belegbare Gründe, warum ein klarer negativer Zusammenhang zwischen höheren Mindestlöhnen und höherer Arbeitslosigkeit bestehen sollte, weder bei Frauen noch bei Männern. Stetes Wiederholen von inhaltlich falschen Aussagen macht diese nicht richtiger, nur profitabler. Die Agenda Austria ist Frauen also erst recht keine Hilfe. (Ludwig List, 28.11.2018)