Droht ein Krieg zwischen der Ukraine und Russland? Oder ist das nur eine Fortsetzung eines schon seit 2014 geführten Krieges? Ist dieser Konflikt Teil einer Strategie Russlands, alle nach 1991 verlorenen Gebiete wiederzugewinnen? Hat der ukrainische Präsident auf Anraten der USA den Vorfall von regionalem Interesse zugespitzt, um die drohende Niederlage in den kommenden Präsidentschaftswahlen zu verhindern? Diese und andere Fragen schwirren durch die Luft und die eine Wahrheit scheint es nicht zu geben. In diesem Konflikt gibt es mindestens zwei davon, jede Seite hat eine andere.

Kontrolle über Kertsch

Eine klare Sicht auf den Zwischenfall an der Straße von Kertsch, bei dem die Ukraine versuchte ohne russische Zustimmung mit drei Militärschiffen die Durchfahrt zu den ukrainischen Häfen Mariupol und Berdjansk zu erzwingen und diese Schiffe dann von der russischen Marine gekapert wurden, ist nur möglich, wenn die Interessenlage der beteiligten Seiten an dem Konflikt genauer untersucht wird. Welche Seiten sind jedoch daran beteiligt? Die Ukraine und Russland auf jeden Fall, das ist klar. Die Schifffahrt im Asowschen Meer ist eigentlich durch ein bilaterales Abkommen aus dem Jahr 2003 geregelt. Umstritten ist, ob die internationale Seerechtskonvention von 1982, die eine freie Durchfahrt von Schiffen anderer Staaten durch Meerengen regelt, auf das Asowsche Meer anwendbar ist, insofern als es in jenem Abkommen von 2003 als Binnengewässer definiert wurde.¹ Die Sache wird aber durch die Annexion der Krim im Jahr 2014 zusätzlich kompliziert. Die Brücke über die Meeresenge von Kertsch zur Krim erleichtert es Russland jedenfalls in technischer Hinsicht, eine Durchfahrt ins Asowsche Meer zu kontrollieren oder zu verwehren.

Die drei ukrainischen Schiffe im Hafen von Kertsch.
Foto: REUTERS/Alla Dmitrieva

Russland behauptet nun, es hätte die ukrainischen Marineschiffe aufgefordert zu stoppen, jene hätten sich aber nicht gemeldet und stattdessen riskante Manöver durchgeführt (die man auf seltener gezeigten Bildern auch sehen kann). Die ukrainische Seite behauptet, die Durchfahrt der Schiffe sei den Russen angekündigt worden. Danach wurden die Schiffe gestoppt, eins gerammt – dieses Bild wird immer wieder in den TV-Nachrichten gezeigt –, geentert und die 24 Marineangehörigen auf den Schiffen (einschließlich zwei Angehörige des ukrainischen Sicherheitsdienstes) verhaftet sowie zwölf von ihnen zu zwei Monaten Arrest verurteilt. Soweit die bisher bekannten Fakten des Konfliktes in der Meerenge von Kertsch.

euronews (deutsch)

Vorausgegangen waren Tätigkeiten der russischen Seite, die den Seetransport zu den ukrainischen Häfen Mariupol und Berdjansk behinderten, etwa Inspektionen, wodurch der Schiffverkehr aufgehalten und die Tätigkeit der Häfen deutlich eingeschränkt wurde. Auch die Wartezeiten in den Häfen hätten sich durch diese Maßnahmen erhöht. Seitens der Ukraine wurden in der Vergangenheit ebenfalls russische Schiffe festgesetzt, vor allem Fischerboote, da diese ukrainische Gewässer unerlaubt befahren hätten.¹ Auf Grundlage des Abkommens von 2003 haben beide Seiten das Recht zur Kontrolle der Schiffe der anderen Seite.Die russische Kapazität dazu ist durch die größere Marinekapazität und die Brücke von Kertsch nun erheblich größer als die ukrainische.

Die Perspektive in der Ukraine

Zu erwähnen ist noch die Verhängung des Kriegsrechts durch den ukrainischen Präsidenten Poroschenko. Dazu gibt es ebenfalls interessante Aspekte, die mitunter in der österreichischen Medienberichterstattung etwas zu kurz kommen. Klar ist, der Zwischenfall vor der Brücke von Kertsch war nur Anlass für diese Maßnahme. Sie erstaunt zumindest, weil in sehr viel brenzligeren Situationen (etwa im Sommer 2014 in der Schlacht bei Ilowajsk) diese Ausrufung ausgeblieben war. Ein Zusammenhang zu den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen, bei denen bisher dem Amtsinhaber kaum Chancen auf eine neue Amtszeit eingeräumt werden, erscheint als wahrscheinlich. So sah es auch das ukrainische Parlament, das nur eine"light Version" des Kriegsrechtes beschlossen hat: nur für einen Monat, nicht für zwei (um den Beginn des Wahlkampfes Ende Dezember nicht zu gefährden), die Gültigkeit nur in einigen Gebieten der Ukraine, nicht im Westen und in der Hauptstadt, und die Einschränkung der politischen Rechte der Bevölkerung soll trotz Kriegsrechts erst bei einem direkten russischen Angriff in Kraft treten. Zudem hat das Parlament den Präsidenten aufgefordert, die Wahlen am 31. März durchzuführen und sie somit nicht zu verschieben.

Perspektiven in Russland auf den Vorfall

Die Interessen der ukrainischen Akteure an der Zuspitzung der Beziehungen sind deutlicher geworden. Doch was ist mit den Interessen der russischen Seite? Russlands Interessen werden unterschiedlich dargestellt. In den Berichten einiger deutschsprachiger Medien (und auch auf einem Forum der Böll-Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, das am 27.11. in Berlin stattfand) wird die sinkende innenpolitische Popularität des russischen Präsidenten erwähnt und vermutet, er hätte vorgehabt, mit der Aggression vor Kertsch sein Image als starker Politiker wieder aufbessern zu wollen.

Was wird zur Interessenlage in russischen Medien dazu berichtet? "Echo Moskwy" verweist darauf, dass nicht nur Poroschenko, sondern auch Putin hofft, von den Spannungen zu profitieren. Die Rentenreform habe ihn Zustimmung gekostet, durch den jüngsten Marinekonflikt bemühe er sich um neuen Zuspruch. Die Zeitung "RosBisnesKonsalting" (RBK) verweist hingegen darauf, dass das US-State-Department in einem Pressegespräch die europäischen Länder aufgefordert hätte, den Bau von "North Stream II" aufzugeben, weil dieser der russischen Seite nutze. Anders gesagt, man vermutet, der Konflikt in der Straße von Kertsch sei westlich provoziert, um die Beziehungen zwischen der EU und Russland weiter zu verschlechtern und den wirtschaftlichen Interessen der USA zu dienen. Im "Kommersant" wird ausführlich über die Ereignisse und die internationalen und nationalen Reaktionen berichtet, um festzustellen, dass die EU durch jenen Zwischenfall in der Straße von Kertsch an den ungelösten Ukraine-Konflikt erinnert werden könnte und daran, dass er energischer als bisher gelöst werden müsse.In dem zitierten Beitrag im "Kommersant" wird auch darauf verwiesen, dass einige europäische Länder für neue Sanktionen gegen Russland sind (Polen, Estland) während andere (Deutschland, Frankreich) sich um Vermittlung bemühten und zur Zurückhaltung aufriefen. Putin wird in diesem Bericht mit den Worten zitiert, er hoffe, dass Berlin die Ukraine dazu bringt, sich zu mäßigen und von weiteren unüberlegten Schritten zurückzuhalten.

Poroschenko auf Stippvisite bei der ukrainischen Armee.
Foto: Reuters

Die Perspektive der EU und der USA

Die Interessen der USA am Konflikt zwischen Russland und der Ukraine unterscheiden sich von den meisten EU-Staaten. Die USA sind zwar weniger direkt betroffen, aber daran interessiert die strategische Position Russlands zu schwächen und das alte Feindbild wieder zu aktualisieren. Sie haben in gewissem Maße (was die erwähnte Erdgasleitung anbetrifft) auch eigene ökonomische Interessen. In der EU gibt es unterschiedliche Interessenlagen, einige osteuropäische Länder (wie Polen oder die baltischen Staaten) betrachten die Politik Russlands als Bedrohung der eigenen Souveränität, unter anderem deshalb, weil sie die sowjetische Geschichte einseitig als bloße imperiale Expansion Russlands ansehen und ihre eigene Einbindung in das staatssozialistische Experiment verdrängen. Andere, wie Ungarn, haben eine eigene nationalistische Perspektive auf die Ukraine und Russland und suchen vor allem nach einem Schutz ihrer "Landsleute" in der Ukraine vor den dortigen Nationalisten. Deutschland ist in den letzten Jahren unentschlossen, wie es sich politisch verhalten soll. Es sind jedenfalls nicht nur pure Wirtschaftsinteressen, sondern auch wohlverstandene eigene Sicherheitsinteressen, die die deutsche Regierung antreiben, wenn sie sich um Verminderung der Spannungen zwischen der Ukraine und Russland bemüht.

Fehlt eine europäische Sicherheitsarchitektur?

Einen zentralen neuralgischen Punkt der internationalen Lage aber erkennt man nur aus jener längeren historischen Perspektive, die kürzlich Simon Jenkins im "Guardian" angesprochen hat. Der Westen hat es in den Neunziger Jahren versäumt, eine der neuen Lage nach dem Ende des sowjetischen Staatssozialismus angemessene Sicherheitsarchitektur zu bauen, die auch die berechtigten Interessen Russlands anerkennt. Er schreibt: Unübersehbar ist, dass es Europa an einem kollektiven Forum mangelt, in dem solche Eskalationen (wie die jüngste vor der Krim, der Autor) diskutiert und möglicherweise gelöst werden können. Es gab keinen neuen Vertrag mit Russland, stattdessen die Einkreisung des Landes durch die NATO und ein Willkommen für die "russischen Oligarchen und Kleptokraten durch London". Des Weiteren vergleicht er den Umgang mit Russland mit dem mit Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg.Das eröffnet eine düstere Perspektive, vor allem aber wird das heutige Kernproblem in seiner ganzen Brisanz sichtbar, die fehlende europäische Sicherheitsarchitektur, welche geeignet wäre, solche Konflikte wie den zwischen der Ukraine und Russland nachhaltig zu entschärfen. (Dieter Segert, 30.11.2018)

Dieter Segert war von 2005 bis 2017 Universitätsprofessor für Transformationsprozesse in Mittel-, Südost- und Osteuropa am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.