Schreibt über die Abgründe kolumbianischer Geschichte: der Weltautor Juan Gabriel Vásquez.

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Ein schwarzes Loch in der Geschichte, das stelle dieser 9. April 1948 dar; allerdings sei er "noch vieles mehr", schreibt Juan Gabriel Vásquez. Einen umfangreichen Beleg dafür schafft er in großartiger Sprachkunst mit seinem Roman Die Gestalt der Ruinen. Er weist weit über die in Herrschaftsversionen abgesegneten vorgeblichen Tatsachen hinaus, führt tief in Extremsituationen von Charakteren und Gesellschaften. Hatte Stefan Zweig einen Moment zur Sternstunde der Menschheit verdichtet gesehen, so geht der 45-jährige Kolumbianer, der in Barcelona und auch in Brüssel gelebt hat, der gängigen Überlieferung auf den Grund, bringt deren Bodensätze ins Wanken und beschert uns eine Sternstunde zeitgenössischer Literatur.

Ein Gespräch über den 9. April gehöre zum Leben der Leute jener Zeit, "wie Schach oder Karten zu spielen, Kreuzworträtsel zu lösen (...) oder Briefmarken zu sammeln". Für Kolumbien, einen Staat, in dem "eine Todesdrohung fast zum Alltag gehört und die alltäglichen Drohungen nicht selten eingelöst werden", bedeutet der 9. April 1948 ein einschneidendes Datum: Der charismatische Liberale Jorge Eliécer Gaitán wird in der Hauptstadt erschossen; die folgenden Kämpfe kosten Tausende das Leben und markieren den Beginn anhaltender Gewalt. Der Mord treibt auf dunklen Wegen die vielfältigen Kriege an, "in denen wir einander auch noch siebenundfünfzig Jahre später töteten" – versieht Vásquez das Geschehen mit dem Pronomen persönlicher wie kollektiver Handlung.

Privat geht es um die schwierige Schwangerschaft bis zur Frühgeburt der Zwillingstöchter des Autors. Dem gegenüber stehen seine Erinnerungen an blutige Verhältnisse, besonders an die Bombenanschläge, mit denen der Drogenboss Pablo Escobar 1991 das Land in Angst versetzte. Fiktion und Fakten, Autobiografisches und vergangene wie gegenwärtige Politik greifen ineinander, indes oft zeitverschoben: "Nie erreichen uns die Fetzen Erkenntnis, die wir über uns selbst erlangen können, zur rechten Zeit."

Plausibel beruht das literarische Konzept auf einem Zurück und Vor und Zurück in der Zeit. Es ermöglicht, hinter die Kulissen zu blicken, ohne eine Gewissheit der Einsichten zu behaupten. Freilich suggeriert es ein Räderwerk des Schreckens, das "erst mit diesem Buch zum Stillstand kommen sollte", als "Sühne für Verbrechen, die ich zwar nicht begangen, aber doch geerbt habe". Gefordert ist folglich der Erzähler selbst, hier so deutlich identisch mit dem Autor, dass er ureigene Lebensumstände und bisheriges Schaffen – die Romane Die Informanten, Die geheime Geschichte Costaguanas und Das Geräusch der Dinge beim Fallen – einbringt, als führe alles auf dieses Hauptwerk hin.

Rückblick mit Zeitebenen

In schwieriger privater Situation begegnet Vásquez bei einer Einladung dem seltsamen Carlos Carballo. Dieser will ihm eine Lektion erteilt sehen, was es heiße, Kolumbianer zu sein: die Toten, "die wir geerbt haben". Der darauffolgende Eklat löst eine intensive Beschäftigung mit dem 9. April 1948 aus. Der Roman beginnt jedoch nicht damit, sondern mit des Autor-Erzählers letztem Bild von Carballo: Der steigt in ein Polizeiauto, nachdem er versucht hat, den von Kugeln durchlöcherten Anzug Gaitáns aus dem Museum zu stehlen. Vom ersten Satz an ist der Roman ein Rückblick mit mehreren Zeitebenen, um eine andere Sicht auf die Geschichte zu gewinnen. Geschichte, das sind Zusammenhänge, denen aus Ruinen der Vergangenheit eine Form zu geben ist. Bei Vásquez ersteht ein breites Bild seines Landes im Laufe eines Jahrhunderts; erschreckend erscheint es in einer Bipolarität, die Gewalt fördert. Konservative und Liberale, katholische Macht und Freigeister bekämpfen einander buchstäblich bis aufs Blut. Und so wirft dieser Gesellschaftsroman durchaus Schlaglichter auf andere Weltgegenden: Was geschieht, wenn einfache Botschaften eine Gemeinschaft spalten. Binnengeschichten um Leben und Tod, um Zeit und Vergehen ergänzen die Haupthandlung über zwei politische Morde.

Eine soziale Breite vermitteln schillernde Nebenfiguren und bemerkenswerte Charaktere: Wie später Carlos Carballo sucht ab Oktober 1914 der junge Anwalt Anzola nach dem Mord an General Uribe Uribe unter Anfechtungen ein dunkles Komplott ans Licht zu bringen; ihm stellt sich der Großgrundbesitzer Acosta entgegen, "ein besonders unheilvoller Mann in einer Zeit, in der das Land keinen Mangel an unheilvollen Figuren hatte". Und im Hintergrund ziehen Politiker, Juristen, Jesuiten die Fäden.

Die große Kunst von Vásquez schafft es, die Episoden mit gewichtigen Hauptthemen und Motivketten so zu koordinieren, dass Erzählfluss und Spannung nicht nur anziehen, sondern auch an Tiefe gewinnen. Es ist ein bestechender Perspektivenwechsel, dass das Initialereignis, Gaitáns Tod, aus dritter Hand, indirekt, von einem ebenso begnadeten Rhetoriker wie der Ermordete geschildert wird. Durch seinen Mund, heißt es, erwache Gaitán wieder zum Leben – mit ihm die Zweifel an der offiziellen Einzeltäterversion. Und Vásquez gibt in einem der zahlreichen literarischen Verweise zu bedenken, dass schon García Márquez im Memoirenband Leben, um davon zu erzählen schreibt, die Identität des wahren Mörders sei geschützt worden.

Verschwörungsthese

Der Brennpunkt des Buches ist die Verschwörungsthese, der Tote des 9. April sei Opfer eines Komplotts geworden, wie dies bei anderen folgenreichen politischen Attentaten der Fall gewesen sei. So drängen Franz Ferdinand und Sarajevo in diese Geschichte, Kennedy und der Zapruder-Film, vor allem ein zweiter politischer Mord in Bogotá. Unter ebenso mysteriösen Umständen war am 15. Oktober 1914 der liberale General Rafael Uribe Uribe auf offener Straße umgebracht worden, den García Marquez für seine Hauptfigur in Hundert Jahre Einsamkeit zum Modell nahm.

Um das Faktische im Fiktiven zu stärken, sind Fotos, etwa von Gaitáns Leiche, und Dokumente, offenbar Originale, in den Roman eingefügt. Allerdings vermittelt er, dass das Offensichtliche nicht unbedingt der Wahrheit entspreche. An zentraler Stelle steht, man müsse lernen, "über das Offensichtliche hinauszublicken". Entsprechend spiegelt und verzweigt der Roman Puzzleteile. Beispielsweise ist ein Zeitschrifteninterview zu lesen, das Vásquez mit einem Schriftstellerfreund über einen behaupteten, aber nicht stattgehabten Aufenthalt von Orson Welles 1942 in Bogotá geführt hat. Ausgerechnet dabei diskutieren sie das Verhältnis von Geschichte und Roman, den Grundsatz formulierend, "dass alle Räume Territorium des Romans sind".

Die verborgene Geschichte möge dieses Buch ans Licht bringen, verlangt Carballo, worauf Vásquez die Frage stellt, welche Wahrheit das denn sei. Man müsste, denkt er, "einen neuen Ausdruck für eine so ausgeklügelte Lüge erfinden, die eine bloße Täuschung durch Worte bei weitem übersteigt, die eine komplexe, ausgetüftelte Inszenierung erfordert, für die gewisse Requisiten notwendig sind und das Talent, sie anzufertigen". Dies kann durchaus für Die Gestalt der Ruinen gelten, vor allem jedoch steigt bei der Lektüre die Empörung über Herrschaftspolitik, ihre dunklen Machenschaften und Inszenierungen hoch. Er schreibe, beginnt Juan Gabriel Vásquez den letzten der neun Teile des Romans, nicht über das, was man kenne und verstehe, "sondern weil man merkt, dass jede Kenntnis, jedes Verstehen falsch waren".

Auf diese Weise führt uns sein Werk in die Abgründe kolumbianischer Geschichte und anderer Kontexte sowie in die wesentlichen Schlingen poetischer, historischer Reflexion. (Klaus Zeyringer, 5.12.2018)