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Alexander Rahr vergleicht Wladimir Putin mit Iwan dem Schrecklichen.

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Alexander Rahr, "2054 – Putin decodiert". € 24,- / 400 Seiten. Verlag Das Neue Berlin, 2018

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Der Moskauer Großfürst Iwan IV. Wassiljewitsch verdiente sich als Zar von Russland den selbst für einen unumschränkten Herrscher nur bis zu einem gewissen Grad förderlichen Titel "Der Schreckliche" durch Grausamkeiten gegen Mensch und Tier. Bei all seinen Eskapaden war er aber Verfechter einer christlichen Reichsidee, es ging ihm um den Platz von Russland in einer Geschichte, mit der Gott viel vorhatte: nichts weniger als die "Vollendung der Menschheit". Dafür stand allerdings nur das sehr irdische Mittel der konkreten Menschen zur Verfügung. So muss es nicht verwundern, dass der Verlauf dieser Geschichte chaotisch ist. Das gilt bis heute, und die Fragen sind immer noch dieselben: Gehört Russland zu Europa oder zu Asien? Erfüllt sich im orthodoxen Christentum die Heilsgeschichte, oder ist weiterhin das erste Rom im Besitz der Wahrheit?

Man muss nur ein wenig zurücktreten und gleichsam mit weltgeistlichem Interesse auf die Zeitläufte blicken, dann wird man unvermutete Muster erkennen. Für den Russlandexperten Alexander Rahr zeigt sich eine suggestive Parallele: Wladimir Putin könnte doch so etwas wie der neue Iwan der Schreckliche sein. Nein, Putin hat keine Kinder gefesselt ins Wasser werfen lassen (manche unterstellen ihm, dass er Wohngebäude in Moskau in die Luft jagen ließ, um sein Präsidentschaftsmandat dringlicher erscheinen zu lassen), aber wie Iwan sich mit Bojaren und Tataren herumschlug, so muss Putin sich mit Oligarchen und mit China herumschlagen – von Amerika wusste man im 16. Jahrhundert noch nicht viel, da hinkt also ein Vergleich.

2054 – Putin decodiert heißt der Roman von Rahr, der nichts Geringeres verspricht als eine Geschichtsvision für das 21. Jahrhundert. Rahr ist von Beruf Historiker, vor allem aber ist er Publizist. In den nicht nur in Deutschland mit Leidenschaft geführten Debatten, wie (West-)Europa sich gegenüber Russland verhalten soll, gilt Rahr als einer der prominentesten "Putin-Versteher". Ein neuer Thomas Mann oder auch nur ein zweiter Oswald Spengler ist an ihm nicht verlorengegangen, wie man nach seinem ersten Roman feststellen kann. Aber Rahr wollte mit 2054 – Putin decodiert wohl auch nicht in die Annalen der Literatur eingehen, sondern er will Geschichtsbilder prägen. Dazu dient ihm der Vergleich zwischen Putin und Iwan dem Schrecklichen und die Parallelführung des 16. mit dem 21. Jahrhundert.

Für die Überbrückung der historischen Distanzen bedient sich Rahr bei einem Klassiker der spekulativen (manche würden vielleicht eher sagen: der durchgeknallten) Literatur, bei dem französischen Apotheker Michel de Nostredame (aka Nostradamus), der eine aus Sicht des 16. Jahrhunderts künftige Weltgeschichte in Versen und mit allerlei rätselhaften Namen hinterließ, an deren Deutung sich seither ein eigenes Gewerbe abarbeitet. Die Prophezeiungen von Nostradamus enthalten einen Hister (Hitler?!), einen Chiren (Henric?) und natürlich – das kommt aus der biblischen Johannes-Apokalypse – einen Antichrist, wobei Rahr als Anhänger von Putin alle Deutungen übergehen muss, die in Donald Trump einen Kandidaten auf das Amt des dritten und letzten Antichristen sehen.

Die Krim als Teil eines "games"

Der Roman springt (und reist) zwischen den Zeiten, im Mittelpunkt steht die Figur eines öffentlichen Intellektuellen namens Vetrov, hinter dem man leicht ein Selbstbildnis Rahrs als verkannten Intellektuellen sehen kann. Der befindet sich mit seiner Vermittlerrolle zwischen Russland und Deutschland in einer schwierigen Position: Er möchte Putin als eine Jahrtausendchance für die Welt deuten, während Putin sich realpolitisch die ganze Zeit als ganz normaler Despot und Kriegsherr zeigt. Rahr aber möchte die Krim und Syrien als Teil eines "great games" verstehen, wobei dieser Verweis auf den alten Konflikt zwischen England und Russland um Zentralasien die konkrete Auseinandersetzung über Sanktionen und Missionen auf die Ebene von Zivilisationsfragen oder der "Vollendung der Menschheit" hebt. Da hat Rahr klare Vorstellungen: Es läuft im Grunde welthistorisch alles auf Russland (und auf Putins Nachfolger) hinaus.

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Alexander Rahr ist kein geborener Erzähler. 2054 – Putin decodiert gibt sich nur notdürftig die äußere Gestalt eines Science-Fiction-Romans. Möglicherweise wäre Rahr gern so etwas wie ein Anti-Gluchowsky, also einer, der die Dystopien des Metro-Zyklus des bekannten Putin-Kritikers Dmitri Gluchowsky sub specie aeternitatis zurechtrückt. Über weite Strecken liest sich 2054 – Putin decodiert eher wie ein populärer Vortrag über den Verlauf der Geschichte in einer bestimmten Perspektive – man könnte, wohlwollend, von einem räsonierenden Roman sprechen. Auf dieser Ebene ist er wirklich interessant, weil er ein anderes "great game" skizziert, das nebenbei mit den aktuellen Konflikten um die Eigenständigkeit der ukrainischen Kirche gerade wieder große Relevanz bekommt: Die schreckliche Real- und Machtpolitik ist in dieser Sicht immer ein Theater mit geistlichem Hintergrund, und auf diesem Theater soll nicht weniger als die Aufklärung abgewickelt werden. (Bert Rebhandl, 2.12.2018)