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Astrid Lindgren als Oma: die berühmte Kinderbuchautorin mit ihrem Enkel beim Spielen. Ihren eigenen Sohn musste sie in den ersten Jahren zu einer Pflegemutter geben, um arbeiten zu können.

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Lindgren: "Hat jemand gesagt, dass alte Weiber nicht auf Bäume klettern dürfen?"

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Eines Tages in den späten 2000er-Jahren stand ich vor einem schwindlig hohen Neubau in Ottakring, einen Schuhkarton in der einen, zehn Euro in der anderen Hand. Stiege vier war es, das weiß ich noch, da kam ein Mann mit Brille und Halbglatze und drückte mir ein benutztes Hamsterrad in die Hand: "Zan Laufn", sagte er sehr unwienerisch, fragte "Passt?", und ich sagte "Passt" und gab ihm die zehn Euro. Der Hamster im Schuhkarton versuchte unterdessen, ein Loch in die Freiheit zu knabbern, und kurz vor zu Hause, da konnte man am rechten unteren Eck der Kiste auch schon seine Zähne sehen. Ich setzte ihn und das Rad in ihr neues Gehege und hieß beide willkommen. Er war klein und grau und sah dick aus (aber das war nur das Fell), und es war schon davor klar gewesen, wie ich ihn nennen würde: Pippilotta Viktualia Rollgardina Schokominza Efraimstochter Langstrumpf.

Pippis Verhalten

Im Gegensatz zur flauschig-grauen Pippilotta, die ein paar Jahre später dasselbe Schicksal ereilte wie den Hamster aus dem Ottakringer Neubau, begleitet mich die rothaarige Pippi mit der Zahnlücke und der Vorliebe für Räuberpistolen schon mein Leben lang. An Fasching verkleidete mich meine Mutter als rothaariges, sommersprossiges Mädchen – und wie ich finde ziemlich authentisch, denn bevor ein Kieferorthopäde viele Jahre damit verbrachte, meine Zähne zu standardisieren, hatte ich an Fasching zwar falsche rote Zöpfe und falsche Sommersprossen im Gesicht, aber eine waschechte Pippi’sche Riesenzahnlücke. Eines der Bücher, das meine Mutter meinem Bruder und mir früher immer vorlas, steht immer noch in meinem Bücherregal, die Filme kann ich bis heute wohl auswendig. Und wenn ich dieser Tage bei Lesungen einen Text von mir vortrage, dann zitiere ich dort das revoltierende Mädchen mit den großen Schuhen, in denen die Zehen Platz haben, zu wackeln.

Trailer zu "Astrid".
KinoCheck

Aber eigentlich zitiere ich jemand anderen. Und zwar die Frau, die die Geschichte über Pippi Langstrumpf ihrer Tochter zum Geburtstag schrieb und sie dann einem Verlag schickte. Die Frau, die dem Brief einen Zettel bei legte, auf dem stand: "Sicherheitshalber sollte ich vielleicht darauf hinweisen, dass meine eigenen unglaublich wohlerzogenen, engelsgleichen Kinder keinerlei Schaden durch Pippis Verhalten genommen haben." Die Frau, die sich nicht entmutigen ließ, als der Verlag das Manuskript ablehnte. Deren Geschichten trotz allem Eingang in die Kinderzimmer dieser Welt gefunden haben – oder genau deswegen: Astrid Lindgren.

Aber wer ist eigentlich Astrid Lindgren? Astrid Lindgren, das ist Michel aus Lönneberga und die Kinder aus Bullerbü, und Ronja Räubertochter ist sie auch, Kalle Blomquist, Karlsson vom Dach und Madita. Aber was ist die Geschichte der Geschichtenerzählerin? In Schweden nennt man sie schlicht Astrid. Astrid, mit der jedes Kind groß wurde, Astrid, die abends in die Schlafzimmer kam und von rebellischen Mädchen erzählte, von liebenden Familien und von Detektiven. Aber Astrid war selbst auch Rebellin, die Ermittlermethoden von Kalle Blomquist lernte sie selbst, als sie für einen bekannten Kriminologen arbeitete, und die Geschichten der Kinder aus Bullerbü waren die Geschichten ihrer Kindheit. Anfang Dezember kommt nun ein Film in die österreichischen Kinos, der die Anfänge von Astrid Lindgrens Geschichte erzählt. Unga Astrid heißt er im Original, "die junge Astrid". Auf Deutsch schlicht Astrid, auf Englisch Becoming Astrid. Und das scheint die passendste Betitelung. Wie wurde die junge Astrid Anna Emilia Ericsson zu der Frau, deren Bücher viele Kinder dieser Welt großzogen?

Frauen dürfen noch nicht wählen, der Erste Weltkrieg wird erst in sieben Jahren ausbrechen, da wird Astrid Lindgren im Småland geboren. Ihre Kindheit bezeichnet sie später als die schönste Zeit ihres Lebens. Die Geschichten, die sie in Wir Kinder aus Bullerbü beschreibt, sind viele der Geschichten, die Astrid Ericsson mit ihren drei Geschwistern Stina, Gunnar und Inge erlebte. Auf frühen Fotos hat das große, schlanke Mädchen oft Zöpfe und große Schleifen im Haar. Die kurzen Haare, die sie schließlich bis an ihr Lebensende trug, legt sie sich damals selbst zu – es gleicht einem revolutionären Akt. Mädchen haben damals keine kurzen Haare.

Vertreibung aus dem Paradies

Für Astrid höchstens Bestätigung, sie abzuschneiden. Sie und ihre Freundinnen hätten sich nicht wie Damen benommen, erzählt sie später. Fotos zeigen sie in Männerkleidern und Schirmmütze. Astrid ist schon in der Schule dafür bekannt, schreiben zu können. Der Chefredakteur der örtlichen Zeitung bietet ihr ein Volontariat an. Kurz darauf ist ihre Kindheit vorbei: Die 18-Jährige wird schwanger von ihrem knapp 50-jährigen Chef. Er möchte Astrid heiraten, aber sie verneint. Sie liebt ihn nicht, auf dem christlichen Land in den 1920er-Jahren kein Argument, jemanden nicht zu heiraten. "Lieber tot sein", soll Astrid Lindgren damals gesagt haben. Die Konsequenz dieser Entscheidung ist die Vertreibung aus dem Paradies. Um den Ruf der Familie zu wahren, verlässt Astrid ihr Zuhause und geht allein und ohne Ausbildung nach Stockholm. Sie muss ihren Sohn in den ersten Jahren zu einer Pflegemutter geben, um arbeiten zu können – gerade sie, die genau weiß, wie wichtig liebende Eltern und Geschwister sind. Sie arbeitet als Sekretärin und lebt in Armut. Das Geld, das sie verdient, gibt sie aus, um ihren Sohn Lars, genannt Lasse, in Kopenhagen bei seiner Pflegemutter besuchen zu können. Die Fahrt kostet sie mehr als einen Wochenlohn, meist kann sie nur einen Tag bleiben, aber es ist unmöglich, das Kind zu sich zu holen: Oft hungert sie und friert im Winter.

Anfang der 1930er-Jahre kann sie Lasse schließlich zu sich holen, sie heiratet und bekommt eine Tochter. Es mag wie ein glückliches Ende klingen, aber die Ehe ist nicht einfach. Astrids Ehemann Sture ist alkoholkrank, in einem Brief an eine Freundin schreibt sie: "Es waren Tage voller Unbehagen und lähmender Schwere." Und dann bricht der Zweite Weltkrieg aus. Sie führt während dieser Jahre Kriegs Tagebuch, 17 Bücher werden es. "Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben", schreibt sie beim Überfall Polens durch die Deutschen, und kurz darauf, es sei ein Jammer, dass niemand diesen Hitler erschieße. Sie arbeitet für den schwedischen Geheimdienst und erfährt dort mehr als andere über den Krieg, über die systematische Vernichtung der Juden in Europa, über den Schrecken, der sich durch die Welt zieht: "Die Menschheit hat den Verstand verloren."

"Weiter geht’s! Sei tapfer!"

Sie schreibt auch über Privates. Ihr Mann hat sich in eine andere Frau verliebt, nicht das einzige Mal im Laufe der Ehe. Er sei ein beliebter Mann gewesen, nett und fröhlich, erzählt Astrid nach seinem Tod, er sei wohl aber nicht der beste Ehemann gewesen. Und der Krieg fühlt sich für sie auf einmal an wie eine Nebensache: "Ein Erdrutsch ist über mein Leben hereingebrochen, und ich bleibe einsam und frierend zurück", schreibt sie. Sie schämt sich, dass ihr eigenes Leben einen so großen Platz einnimmt. "Blut fließt, Menschen werden zu Krüppeln, überall Elend und Verzweiflung. Und ich kümmere mich nicht darum. Nur meine eigenen Probleme interessieren mich." Astrid versucht, die Ehe zu retten. Bis zu Stures Tod im Juni 1952 bleibt das Paar verheiratet. Mit Mitte 40 ist Astrid Lindgren auf einmal Witwe. "Wir waren vier in der Familie und haben jeden Tag zusammen gegessen. Dann hat Lasse geheiratet und wir waren drei. Dann ist Sture gestorben, so waren wir nur noch zwei, Karin und ich. Da sagte ich mir: Bald bin nur noch ich übrig. Ich darf jetzt nicht den Mut verlieren. Als ich schließlich allein war, hab ich in mein Tagebuch geschrieben: Weiter geht’s! Sei tapfer!" Da ist sie schon erfolgreiche Autorin. Denn mit dem Ende des Krieges erscheint Pippi Langstrumpf. Man könne ihre Geschichten durchaus als Plädoyer für eine freie Gesellschaft und gegen autoritäres Denken lesen, sagt Astrid Lindgren später. Pippi ist die Antithese zum Horror der Jahre zuvor. Sie ist die weibliche, furchtlose, mensch liche Antwort auf die von Männern geprägte jahrelange Zerstörung. Sie ist das Gegenteil einer Mitläuferin, leistet Widerstand, schweigt nicht, wenn sie Ungerechtigkeiten sieht, steht immer auf der Seite der Schwachen. Sie hinterfragt Autoritäten, fügt sich nicht, zettelt Aufstände an.

Vor über 70 Jahren war es revolutionär, weibliche Figuren wie Pippi Langstrumpf oder Ronja Räubertochter zu entwerfen. Heute – und das ist gewiss auch ein Verdienst von Astrid Lindgren – hat sich das stark geändert. Astrid Lindgren hat Generationen von Mädchen geprägt und ihnen gezeigt, dass die Schablone, in die sie glauben, passen zu müssen, gesprengt werden kann. Im 2017 erschienenen Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls, in dem die Autorinnen Elena Favilli und Francesca Cavallo 100 Geschichten 100 großartiger Frauen er zählen, schreiben sie über Astrid Lindgren: "Pippi didn’t just said no without any reason: she showed young readers the impor tance of being independent, while always caring for others." (Gerade erschien der zweite Teil – noch einmal 100 Geschichten 100 großartiger Frauen.) Pippi ist groß zügig, sie verteidigt und schützt, und sie nutzt ihre Stärke nie, um nach unten zu treten, obwohl sie könnte. Astrid Lindgren sagte einmal über ihre Schöpfung: "Wenn man stark ist wie Pippi, dann muss man auch gut sein."

Und nach diesem Leitsatz lebt auch Astrid Lindgren selbst. Die Kraft der Autorin ist ihre Stimme. Sie wird gehört, sie ist ein Vorbild, nicht nur für Kinder. Sie ist Astrid, das gute Gewissen Schwedens und darüber hinaus. Sie nutzt diese Stimme und ist politisch in Zeiten, die danach verlangen: Sie spricht sich für ein würdevolles Sterben aus, gegen Massentierhaltung, Atomwaffentests und den Vietnamkrieg, für ein Recht auf Bibliotheken, und sie unterstützt die Gegnerinnen und Gegner der Rassentrennung in den USA. 1978 wird sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, vor der Verleihung reicht sie ihre Rede ein, in der sie sich gegen jede Form von Gewalt in der Erziehung ausspricht – in einer Zeit, in der Schläge ein selbstverständlicher Bestandteil von Kindererziehung sind. Die Rede sei nicht geeignet, heißt es daraufhin. Und Astrid antwortet, dass sie dann vorziehe, nicht zu kommen, woraufhin man ihr versichert, man wolle natürlich, dass sie komme.

Die Rede ist ein Plädoyer für den Frieden und für eine dafür unumgängliche gewaltfreie und liebevolle Erziehung. "Überall lernt man nur von dem, den man liebt", zitiert sie an diesem Abend Goethe. Und sie bezieht es auf Kinder, die liebevoll, nicht durch Schläge groß gezogen werden, aber eigentlich gilt es genauso für die Beziehung der Menschen zu Astrid Lindgren selbst. Sie hören ihr zu und lernen von ihr, denn sie ist eine von ihnen. Sie ist jeder Familie ein Mitglied, sie ist die Mutter, die sie ihrem Sohn in seinen ersten Lebensjahren nicht sein konnte und auch später nicht mehr sein kann, als Lasse noch vor seinem 60. Geburtstag an einen Gehirntumor stirbt. Sie weiß, wie es ist, allein zu sein, ausgeliefert, verloren. Also setzt sie sich für jene ein, die es ebenfalls sind. Oft mit Erfolg. Im Jahr nach ihrer Rede verabschiedet Schweden als erstes Land weltweit ein Gesetz, das jegliche Gewaltanwendung gegenüber Kindern verbietet. Andere Länder ziehen nach. Astrid Lindgren hat vermutlich mehr für die Kinder dieser Welt getan, als wir uns vorstellen können.

Sein können, wer man ist

Noch in meinen 20ern hingen in meiner Studenten-WG Bilder von Pippi Langstrumpf. Sie ist einerseits Mädchen ein Vorbild: Es ist egal, wie du aussiehst, sei gut zu anderen, hinterfrage und sei unabhängig. Gleichzeitig wurde sie im Laufe der Zeit zum Vorbild frauenpolitischer Bewegungen. Wie könnte sie auch nicht. Sie ist die aufständische Antwort auf gesellschaftliche Schieflagen. Und das hat sie von ihrer Schöpferin. Sie denke beim Schreiben nicht politisch, sagt Astrid Lindgren später in einem Interview. Doch sie war jemand, der von der Notwendigkeit überzeugt war, sein zu können, wer man ist. Egal, mit welchen Voraussetzungen jemand ins Leben geworfen wird. Sie entscheidet sich mit 18 – vor über 90 Jahren – für ein unabhängiges Leben, obwohl es der unsichere und beschwerlichere Weg ist, hilft denen, die Hilfe benötigen, und schreckt nicht davor zurück, sich unbeliebt zu machen, weil sie an das glaubt, wofür sie eintritt.

Astrid Lindgren wollte nie im Mittelpunkt stehen, das überließ sie ihren Figuren, wenn es möglich war. Wir vergessen deswegen oft, wer es war, der diese empathischen, kühnen, intelligenten, aufbegehrenden Vorbilder unserer Kindheit schuf. Nämlich ein empathischer, kühner, intelligenter, wenn notwendig aufbegehrender Mensch, der uns nicht minder Vorbild sein sollte. Astrid ist der Film, der die Anfänge der Entwicklung zu diesem Menschen zeigt. Es ist kein Kinderfilm, der dieser Tage ins Kino kommt.

Es ist ein Film, der zeigt, wie Astrid Lindgren zu dem Menschen wurde, der geschaffen hat, womit wir aufgewachsen sind. Wie sehr sie litt, als sie Lasse zurücklassen musste, und wie einsam sie oft war. So wie sie in ihren Büchern keine heile Welt zeichnet, so hat auch sie diese Welt nie erlebt: Sie schreibt über den Tod von Kindern und An gehörigen, über Einsamkeit und Armut – weil sie sich damit auskennt. Aber zum Glück kennt sie sich genauso mit kindlicher Träumerei, Unfug und Leichtigkeit aus. Und das behielt sie sich bis an ihr Lebensende. Als Astrid Lindgren 1997 im Alter von 90 Jahren zur Schwedin des Jahres ernannt wurde, sagte sie etwa zum Publikum: "Ihr verleiht den Preis an eine Person, die uralt, halb blind, halb taub und total verrückt ist. Wir müssen aufpassen, dass sich das nicht rumspricht." Und im hohen Alter kletterte sie auf einen Baum und fragte dann: "Hat jemand gesagt, dass alte Weiber nicht auf Bäume klettern dürfen?"

Vielleicht sollten wir uns dieser Tage alle ein kleines Foto von Astrid Lindgren an den Bad spiegel hängen. Damit uns ihr melancholischer, mütterlich-wohl wollender Blick jeden Morgen daran erinnert: öfter einmal ein bisschen mehr Astrid sein. (Hanna Herbst, 1.12.2018)