Stillleben, wohin man schaut: ein Kaffeehaus tief im Süden ...

Foto: Michael Freund

... ein Berberdorf bei Douriet ...

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... der Eingang zu einem Strand in der Nähe von Tunis ...

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... das Dorf Sidi Bou Said.

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Schnell ist es gegangen. Nur knapp zwei Stunden dauert der Flug von Wien nach Tunis. Vielleicht wären wir in anderen Destinationen im Süden gelandet, wenn uns, wie es der Herr Travnicek so ähnlich formuliert hat, der Gemüsehändler nicht vermittelt hätt'. Der nämlich, Lieferant unseres Vertrauens am Wiener Rochusmarkt, ist Tunesier. Er hat uns über die Jahre von seiner Heimat erzählt und davon, dass sie das einzige Land sei, das aus dem Arabischen Frühling einigermaßen heil hervorgegangen ist.

Tunesien also. Schon während der Fahrt zur ersten Nacht in einem Hotel am Strand östlich von Tunis stimmen uns die Reiseleiter – eine österreichische Arabistin und ein Tunesier, der in Deutschland Philosophie studiert hat – auf die Woche ein. Sie erzählen vom Kontrast zwischen den wenigen großen Städten, in denen sich ein Gutteil der Bevölkerung konzentriert, von der Weite des Landes, von den unterschiedlichen Kulturen, die hier nebeneinander und in guten Zeiten auch miteinander existieren.

Stadtbilder

Ein Gefühl dafür bekommen wir in der Hauptstadt. In Tunis liegt die arabische Altstadt, die Medina, unmittelbar neben der neueren, von den französischen Kolonialisten in den 1880er-Jahren geplanten Ville Nouvelle. Arabisch und europäisch gekleidete Menschen nehmen in gleichem Maße am öffentlichen Leben teil. Minarette und Kirchtürme, Marktgassen und Jugendstilhotels prägen das Stadtbild. Der enge Souk geht umstandslos in den breiten Boulevard über, der durch die französische Neustadt führt und nach dem Mann benannt ist, der Frankreich die Kolonie 1956 abgerungen und dann 30 Jahre lang Tunesien regiert hat: Habib Bourguiba.

Es fällt auf, wie geschäftig mediterran und zugleich gelassen arabisch die Stadt wirkt – gute Voraussetzungen eigentlich für eine urbane Kultur und für ein Reiseziel. Unser tunesischer Guide allerdings, dem Information wichtiger ist als offizielle Propaganda, schränkt ein. Ja, sagt er, das Land mache Fortschritte, aber man dürfe einiges nicht übersehen: wie umständlich die Bürokratie und wie bedenklich hoch die Arbeitslosigkeit unter den Jungen sei. Und vor allem habe es die Massaker in Tunis und auf dem Strand bei Sousse gegeben, denen im Jahr 2015 insgesamt 60 Menschen zum Opfer fielen. Danach seien die Nächtigungszahlen drastisch eingebrochen, erst im vergangenen Jahr habe man wieder Zuwächse verbucht. "Aber nicht genug", sagt er, "und vor allem bei den billigen Strandurlauben."

Spurensuche

Sidi Bou Said, allenthalben als das "pittoreske Künstlerdorf mit blau-weißen Häusern hoch über dem Meer" annonciert, ist jedenfalls kein Ziel für die Massen. Die Flachbauten und die blauen Türen erinnern an griechische Inseln, sind aber auch arabisch geprägt, was Künstler wie Paul Klee und August Macke besonders angezogen haben soll. Heute wird Sidi Bou Said Touristen ähnlich nahegebracht wie vielleicht Rothenburg ob der Tauber, Hallstatt oder Saint-Paul-de-Vence. Doch von solchen Destinationen ist es zum Glück noch weit entfernt, auch weil sich hier mindestens so viele Einheimische wie Gäste tummeln dürften.

Vor allem aber gibt es das ganze weite Land südlich von Tunis, das sich bis in die Sahara erstreckt und auf dem Weg dorthin Eindrücke bietet, als würde man ständig von einem Jahrtausend ins andere springen. Wir beginnen zu verstehen, warum die Reiseführer den engen Fokus auf All-inclusive-Resorts am Strand bedauern. Tunesien sei eines der geschichtsträchtigsten Länder im Mittelmeerraum, sagt die Arabistin. Alle, die einmal hierher gewandert waren oder das Land erobert hatten, hinterließen Spuren. In El Djem etwa haben die Römer ein zwar unvollendetes, aber bestens erhaltenes Amphitheater gebaut, heute noch gut genug für Musikfestspiele und für Szenen aus "Das Leben des Brian".

Verkrustete Strukturen

Die Stadt Kairouan soll dagegen von einem Anhänger Mohammeds gegründet worden sein und gilt als viertwichtigste Stadt des Islam. Den hohen Rang können wir angesichts der sakralen Bauten, besonders der großen Moschee, erahnen – bis zu 200.000 Pilger, erfahren wir, finden an Feiertagen auf dem Vorhof Platz. In Kairouan treffen wir den Bruder des nach Wien ausgewanderten Gemüsehändlers zum Mittagessen. Er bestätigt, was uns der Reiseführer gesagt hat. Die Arbeitslosigkeit sei hoch, auch sein Sohn etwa, ein ausgebildeter Elektrotechniker, finde keinen Job. "Und wir haben eine Korruption, die einfach nicht auszurotten ist", sagt er. Darum würden sich immer mehr Leute nach den Zeiten vor den "Jasmin-Revolutionen" der Jahre 2010 und '11 bzw. 1987 zurücksehnen. Das sei zwar gefährlich, aber verständlich.

Tunesien hat, wie nach unserer Rückkehr zu lesen ist, einen neuen Tourismusminister, der aus zwei Gründen Aufsehen erregt: Réne Trabelsi ist der einzige Jude in einem hohen politischen Amt in der islamischen Welt; und er soll ein Profi sein, der mit seiner Agentur jährlich hunderttausende Europäer ins Land bringt und die verkrusteten Strukturen zum Tanzen bringen wird.

Nichts los

Von ihm ist noch keine Rede, während wir durch das Land fahren, aber man kann sich angesichts der Eindrücke ausrechnen, mit welchen Chancen und Problemen die Tourismusbehörde zu tun hat. Wir sehen die weiten Ebenen im Süden in allen erdfarbenen Schattierungen, umrandet von Gebirgen, die umso abwechslungsreicher werden, je näher wir den Dünen der Sahara kommen. Wir sehen aber auch mit unseren europäischen Augen, wie Millionen von Plastikflaschen und -sackerln die Straßenränder säumen, bis an die Meeresufer, wo der Mist zum Spielball von Ebbe und Flut wird. Der Minister, der nicht auf unsere Ezes angewiesen ist, wird viel zu tun haben.

Wir besuchen ein verlassenes Berberdorf bei Douiret, tief im Süden: das versteinerte Gegenteil von "Da ist was los!". Da ist nichts los, keine Musik, kein Autolärm, keine Flugzeuge am Himmel, keine Blätter rascheln im Wind, weil es weder Blätter noch Wind gibt. Es herrscht, was in unseren Breitengraden praktisch nicht mehr möglich ist, absolute Stille. Es ist überwältigend.

Und dann zwitschert plötzlich ein kleiner Vogel, als ob ein ganzes Orchester angehoben hätte, so groß ist der Kontrast zu der überirdischen Ruhe. Später werden wir ihn auf einer englischen Birdwatchers-Website identifizieren: ein "red-rumped wheatear", zu Deutsch ein Fahlbürzel-Steinschmätzer. Er schaut uns kurz an, zwitschert noch einmal. Weg ist er. Die Stille bleibt. (Michael Freund, 6.12.2018)