Ein Ereignis in Hanoi: Im Dezember 2017 wurde hier das erste Restaurant der Kette McDonald's eröffnet.

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Es ist ein Phänomen, das Vietnam-Urlauber vor allem in größeren Städten des südostasiatischen Urlaubsparadieses beobachten können: schlanke Mütter mit Babys, die die Grenze zur Fettleibigkeit schon überschritten haben. Ein Anblick, der in Vietnam vor wenigen Jahrzehnten noch Seltenheitswert hatte. Was steckt hinter dem Trend?

Judith Ehlert vom Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien beschäftigt sich mit dem Wandel von Esskulturen vor dem Hintergrund der Globalisierung. In ihrem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt zu einem "körperpolitischen Ansatz des Essens" konzentriert sie sich auf Vietnam, weil dieses Land durch seine rasante wirtschaftliche Entwicklung ein typisches Beispiel für neue Konsumgesellschaften mitsamt ihren Auswirkungen auf Essgewohnheiten und Körperideale ist.

Globalisierung

"Während der Indochina-Kriege und auch nach der Wiedervereinigung von Nord- und Südvietnam 1976 herrschte in diesem Land Nahrungsmittelunsicherheit, für viele Menschen war Hunger eine alltägliche Erfahrung", berichtet die Forscherin. "Mitte der 1980er-Jahre leitete die kommunistische Regierung dann Wirtschaftsreformen ein, sodass sich ein privatwirtschaftlicher Sektor entwickeln konnte."

Diese Reformen fielen mit der weltweiten neoliberalen Trendwende zusammen, und so kam es auch in Vietnam zu einer Globalisierung des Agrar- und Lebensmittelsektors.

Heute ist die Landwirtschaft von zunehmender Monopolisierung geprägt, und seit den 1990er-Jahren schießen auch große Handels- und Fastfoodketten nach westlichem Vorbild aus dem Boden. "Diese Öffnung hin zu einer 'Marktwirtschaft sozialistischer Prägung' bringt auch eine neue Konsumgesellschaft mit neuen Ernährungsgewohnheiten mit sich", so Ehlert. Wie sich Menschen ernähren, hat enorme Auswirkungen auf den Wirtschaftserfolg von Unternehmen.

"Deshalb ist auch ein wachsendes kommerzielles Interesse am menschlichen Körper zu beobachten." Wie er ernährt werden und aussehen soll, wird nicht mehr nur von gesellschaftlichen Traditionen und ökonomischen Zwängen bestimmt, sondern verstärkt auch von wirtschaftlichen Zielen.

Wie gehen die Vietnamesen mit dieser Einflussnahme um? "Fastfoodlokale, hochpreisige japanische und koreanische Gastronomie und westlich gestylte Cafés gelten in Vietnam als ausgesprochen schick", berichtet die Sozialforscherin. "Wer dorthin geht, zeigt, dass er sich diese neuen Optionen leisten kann."

Essen ist immer verfügbar

Beim Phänomen der übergewichtigen Kleinkinder verbindet sich die permanente Verfügbarkeit von Snacks und Fertignahrung aus dem Supermarkt nicht nur mit dem Prestige "modernen" Essens, sondern fatalerweise auch noch mit einem alten Schönheitsideal: "Pausbäckige Kinder gelten als attraktive Zeichen für den Wohlstand einer Familie", weiß Ehlert nach Jahren der Feldforschung in Vietnam.

"Für die omnipräsente Kondensmilch hat man mit pausbäckigen Kindern geworben, die schließlich zum Erfolgssymbol der gesellschaftlichen Elite wurden." Damals konnten sich nur die Kolonialherren und wenige Einheimische die teuren importierten Lebensmittel leisten. Seit dem Wirtschaftsaufschwung ab den 1990er-Jahren hat sich das geändert.

Zumindest der wachsende Mittelstand kann sich heute leicht mit prestigeträchtiger "westlicher" Nahrung versorgen und den Nachwuchs dem alten Ideal entsprechend "mästen". "Es sind vor allem die Großeltern, die zum Teil noch selbst Hunger erfahren haben, die ihren Enkelkindern geradezu mit der Schüssel hinterherlaufen", so die Forscherin.

Die Mütter finden sich dabei in einer ambivalenten Position: Einerseits erwarten die Großeltern von ihnen, die Kinder möglichst schnell auf ein höheres Gewicht zu bringen, andererseits lesen sie in Zeitungen und sozialen Medien vermehrt kritische Artikel über fettleibige Kinder und werden in Diskussionsforen mit unterschiedlichsten Ernährungsphilosophien konfrontiert.

Gleichzeitig tritt mittlerweile auch der Staat mit Ernährungsberatungsangeboten an die Familien und Schulen heran. "Obwohl die negativen Folgen der Überfütterung von verschiedenen Seiten thematisiert werden, lautet die erste Frage unter jungen Müttern der Mittelschicht immer noch: 'Wie viel wiegt dein Kind?'"

Und wie geht es den dicken Kindern, wenn sie zu Jugendlichen heranwachsen und selbst einem bestimmten Körperideal nacheifern – nämlich dem globalen Schlankheitsgebot? "Hier kommen dann Appetitzügler und Schlankheitspillen ins Spiel", fand Judith Ehlert in Gesprächen mit Apothekern und jungen Erwachsenen heraus.

Auch Fitnesstraining und Ernährungsberatung werden für die Mittelschicht immer wichtiger. "Zwar gibt es für Essstörungen noch kein Wort, aber das Problem ist zweifellos auch in Vietnam angekommen." (Doris Griesser, 9.12.2018)