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Der Brexit ist eine traurige Geschichte.

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Der Vertragsentwurf zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union umfasst 585 Seiten, die "Politische Erklärung", auf deren Grundlage die Beziehungen Londons zum Kontinent nach dem Brexit gestaltet werden soll, benötigt nur 26 Seiten.

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Der Beamte hat die vergangenen anderthalb Jahre seines Lebens beinahe Tag und Nacht mit Michel Barnier, 60 Kollegen und "dem Problem" zugebracht. Jetzt hat er zwei akkurat arrangierte Stapel Papier ausgerechnet auf jenem Konferenztisch vor sich liegen, an dem Jacques Delors seinerzeit über den Euro und mehr EU-Integration verhandelt hat: die 585 Seiten des Vertragsentwurfs zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Und die 26 Seiten der "Politischen Erklärung", auf deren Grundlage die Beziehungen Londons zum Kontinent nach dem Brexit gestaltet werden sollen.

Standfeste May

"Wir bedauern den Brexit. Es ist eine sehr traurige Geschichte", sagt der Mann, der unter dem Siegel der Verschwiegenheit spricht. Und: "Wir haben alles, was möglich war, getan. Jetzt muss Theresa May den Deal zu Hause verkaufen." Das hat die Premierministerin zuletzt mit viel Standfestigkeit und Unterstützung etwa durch die EU (Kommissionschef Jean-Claude Juncker: "Das ist der beste und der einzige Deal") und die Bank of England getan.

Sechs Szenarien

Ob die Argumentation verfangen hat, wird sich bei der Brexit-Abstimmung im britischen Unterhaus am 11. Dezember weisen. In ihrer eben angelaufenen Debatte müssen die Abgeordneten jedenfalls die folgenden und folgenschweren Optionen für das Vereinte Königreich im Kopf haben.

1. Regulärer Brexit

Im Unterhaus findet sich eine Mehrheit für Scheidungsvertrag und Politische Erklärung. Das ist die Voraussetzung. Danach muss der Deal beiderseitig bis zum 29. März 2019 ratifiziert werden, um am 30. März um Mitternacht in Kraft zu treten. Damit greifen alle im Scheidungsvertrag vereinbarten Bestimmungen von den finanziellen Folgen bis zur Garantie der Rechte von Unionsbürgern in Großbritannien und von Briten in der EU. Mit diesem Stichtag beginnt auch eine mindestens 21-monatige Übergangsphase, in der weiterhin die EU-Regeln für Bürger und Wirtschaft im Vereinigten Königreich gelten – inklusive Zollunion und EuGH-Gerichtsbarkeit. In dieser Periode soll das zukünftige Verhältnis Londons zum Kontinent, etwa ein Freihandelsvertrag, ausgehandelt werden. Für viele Experten ist das in diesem knappen Zeitraum unrealistisch. Deswegen darf die Übergangsperiode um maximal zwei Jahre bis zum 1.1.2023 verlängert werden. Weil die Briten in dieser Periode faktisch noch Mitglied der Union sind, dürfen sie keine Freihandelsverträge mit Dritten abschließen. Scheitern die Verhandlungen mit der EU in diesem Zeitraum und ergreift London keine anderen Maßnahmen, tritt der No-Deal-Brexit ein.

2. No-Deal-Brexit

Die Beziehungen Großbritanniens zur EU würden bei einem No-Deal-Brexit auf den Status von Drittländern in der Welthandelsorganisation WTO zurückfallen. Das bedeutet: Zölle auf britische Waren müssten eingehoben werden, die Zollunion mit dem Vereinigten Königreich wäre aufgelöst, zwischen Nordirland und Irland müsste wieder eine harte Grenze aufgezogen werden. Die Vertreter Großbritanniens in den Institutionen (Kommission, Europäisches Parlament und Rat) wären von einem Tag auf den anderen weg. Britische und Unionsbürger auf Insel und Kontinent hingen rechtlich in der Luft. Die Flugverkehrsabkommen würden ab dem 30. März 0:00 Uhr nicht mehr gelten, Landerechte der Airlines verfallen. Die Zahlungen Londons an die EU würden gestoppt und umgekehrt die Rückflüsse nach Großbritannien, etwa für das Studentenaustauschprogramm Erasmus oder Wissenschaftsförderprogramme. Auch die Autofirma Škoda hätte ein grobes Problem, weil sie ihre Fahrzeuge in UK typisiert und die Typisierung für Neuzulassungen auf den Kontinent verlegen müsste. Für diese und viele weitere Fälle arbeitet die EU-Kommission bereits an Notfallplänen, die das komplette Chaos vermeiden helfen sollen.

3. Referendum über den Scheidungsvertrag

Scheitert May in der ersten und einer möglichen zweiten Abstimmung im Unterhaus mit ihrem Deal, wäre eine Volksabstimmung über den Deal im Jänner oder Februar denkbar. Die Briten hätten dann die Möglichkeit, mit Ja oder Nein über den Scheidungsvertrag abzustimmen. Paradoxe Folge: Wollen die Austrittsgegner das Verhältnis zur EU nicht komplett in Schutt und Asche liegen sehen, müssten sie – obwohl sie leidenschaftlich für einen Verbleib in der EU sind – aus Staatsräson für einen geordneten Brexit stimmen, um einen No-Deal-Brexit zu vermeiden. Bliebe die Frage, ob genügend Zeit wäre, um den Austrittsvertrag dann noch zu ratifizieren.

4. Zweites Austrittsreferendum

Nach dem zweifachen Scheitern Mays wäre auch ein zweites Referendum über den Brexit selbst möglich. In viele Umfragen gehen Demoskopen heute von einer leichten Mehrheit für den Verbleib in der EU aus, die sich etwa bei 52 zu 48 Prozent bewegen würde (also genau umgekehrt zu den Ergebnissen des ersten Brexit-Referendums 2016). Das Problem dabei: Welche Fragen genau sollen dem Volk gestellt werden? Und würde ein zweites Referendum die Spaltung der Briten nicht noch eher vertiefen, als zu einer tragbaren nationalen Position zu führen? Auch in diesem Fall wäre ein regulärer Austritt wohl nur noch schwer zeitgerecht hinzubekommen.

5. Austrittsbrief zurückziehen

Der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), Manuel Campos Sánchez-Bordona, hat am Dienstag in Luxemburg ein nicht bindendes, 41-seitiges Gutachten darüber vorgelegt, dass Großbritannien seinen Austrittsbrief gemäß Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union zurückziehen könnte. Und zwar ohne Zustimmung der 27 anderen Mitglieder der Union. Damit wäre der Zeitdruck aus dem Prozess genommen, die Briten könnten sich über ihre Position einig werden – und den Brief allenfalls ein zweites Mal abschicken oder ihn – nach einem zweiten Referendum – vernichten.

6. Verschiebung des Austrittsdatums

Das drängende Austrittsdatum 29./30. März könnte in beidseitigem Einvernehmen verschoben werden, um Zeit zu gewinnen. Manche Experten denken, dass dies höchstens ein paar Wochen für die Ratifikation sein könnten. Andere glauben, dass das bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag ausgedehnt werden könnte. Das wäre eine wahrlich europäische Lösung als permanentes Provisorium. (Christoph Prantner aus Brüssel, 5.12.2018)