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Am Westbalkangipfel im Mai in Sofia wurde das Erweiterungsversprechen bestätigt. An der Skepsis einiger Mitgliedsstaaten, etwa Frankreichs, im Bild Präsident Emmanuel Macron, hat sich nichts geändert.

Foto: REUTERS/Stoyan Nenov

Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der EU", hieß es beim Thessaloniki-Gipfel 2003. Seitdem kommt die Umsetzung dieses Versprechens nur im Schneckentempo voran. Der Erweiterungsprozess droht zu einem leeren Ritual zu verkommen, bei dem nicht ernst gemeinte Beitrittsversprechen gegen Lippenbekenntnisse zu Reformen ausgetauscht werden.

Viele Bewohner des Westbalkans verlieren die Geduld und treten der Union auf individueller Basis bei. Die Bevölkerungszahl der Region ist seit 1990 um zehn Prozent zurückgegangen. Die UN erwartet bis 2050 eine Verminderung um weitere zwei Millionen. Dies liegt an niedrigen Geburtenraten, überwiegend aber an massiver Abwanderung. Aufgrund rezenter Wirtschaftsdaten schätzt die Weltbank, dass die Konvergenz zwischen den Einkommen auf dem Westbalkan und in der EU etwa 60 Jahre dauern dürfte. Wenn ein junger Mensch dies für sich und seine Familie innerhalb weniger Monate erreichen kann, liegt der Beschluss nahe, in die EU aufzubrechen.

Klare Erfolgsgeschichte

Für die Zielländer ist diese Balkanerweiterung auf dem Boden der EU eindeutig positiv. Die Einwanderung kompensiert niedrige Geburtenraten und trägt zur Wirtschaftsentwicklung bei. Gerade in Österreich ist die Integration der Menschen aus dem Westbalkan eine klare Erfolgsgeschichte. Angesichts des absehbaren Arbeitskräftemangels in Westeuropa dürften auch in Zukunft Arbeitsmigranten aus diesen Ländern gute Möglichkeiten vorfinden.

Für die Ursprungsländer sind die Auswirkungen dagegen zwiespältig. Sicher sind die Überweisungen an Angehörige eine wichtige Einkommensquelle, doch verringert die Abwanderung die wirtschaftliche Dynamik und Erneuerungsfähigkeit. Von Leuten, die ihre Zukunft im Ausland sehen, ist wenig politisches Engagement zu erwarten – das hemmt auch die Weiterentwicklung der politischen Kultur. Traditionelle, auf Klientelismus beruhende Strukturen bestehen fort; mit nationalistischer Rhetorik und der Pflege alter Feindbilder lassen sich immer noch Wahlen gewinnen.

Wichtige Impulse

Nach einer Phase der Stagnation sollte 2018 das Jahr werden, in dem die EU der Westbalkanerweiterung neue Impulse verleiht. Die von der Kommission im Februar vorgelegte Westbalkanstrategie zielte auf eine verstärkte Unterstützung der Reformen und eine beschleunigte Annäherung ab. Ein besonderer Adrenalinstoß sollte von der Ankündigung ausgehen, dass Serbien und Montenegro bei entsprechenden Fortschritten 2025 beitreten können. Bei Gipfeltreffen mit den Westbalkanstaaten in Sofia und in London sollten die EU-Regierungen ihr Bekenntnis zur Erweiterung bekräftigen. Auch die österreichische EU-Präsidentschaft machte den Westbalkan zu ihrer außenpolitischen Priorität.

Kurz vor Jahresende zeichnet sich jedoch eine durchwachsene Bilanz ab. Der Westbalkangipfel in Sofia brachte zwar eine eher dürr ausgefallene Bestätigung des Erweiterungsversprechens, doch hat sich an der grundlegenden Skepsis einiger Mitgliedstaaten – vor allem Frankreichs und der Niederlande – nichts geändert. Die von der Kommission empfohlene Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien und Albanien musste daher verschoben werden. Das Hauptanliegen des Kosovo, als letztes Balkanland von der Visapflicht befreit zu werden, dürfte bis auf weiteres blockiert bleiben, und dies, obwohl die Kommission bestätigt, dass Prishtina die Bedingungen dafür erfüllt.

Was die politischen Fragen anbelangt, steht eine Sternstunde, die Einigung zwischen Skopje und Athen in der Namensfrage, einer Reihe beunruhigender Entwicklungen gegenüber. Falls die rechtliche Umsetzung in beiden Ländern gelingt, sollte für Nord-Mazedonien der Weg in Nato und EU frei sein. Mittlerweile hat sich aber das Verhältnis zwischen Belgrad und Prishtina stark verschlechtert, und die Aussichten auf ein baldiges Abkommen sind geschwunden. Wenig ermutigend ist auch die politische Konstellation in der Folge der Wahlen in Bosnien-Herzegowina.

Risiken der Vernachlässigung

Natürlich war nicht anzunehmen, dass eine neue Kommissionsstrategie und einige hochrangige Treffen die politische Dynamik auf dem Westbalkan nachhaltig zum Besseren verändern. Allerdings besteht nun die Gefahr, dass nach all den Aktivitäten der letzten Monate das Interesse der EU wieder erlahmt. Dabei liegen die Risiken einer Vernachlässigung dieser Region auf der Hand: wirtschaftliche Rückschläge, mehr illegale Migration und organisierte Kriminalität, Spannungen zwischen den Ländern und der zunehmende Einfluss externer Mächte, deren Interessen teilweise jenen der EU zuwiderlaufen.

Die EU hat mittlerweile drei Jahrzehnte lang Erfahrungen gesammelt, viele Lektionen gelernt und große Expertisen aufgebaut. Worum es jetzt geht, ist, die Intensität des Engagements anzuheben. Die Flaggschiffinitiativen der Kommission sind ein guter Ansatz, aber sie müssen auch von den Mitgliedstaaten mitgetragen werden.

Aufstockung der Vorbeitrittshilfe

Sicher braucht es auch mehr Geld. Die Kommission hat für den nächsten Finanzrahmen eine bescheidene Aufstockung der Vorbeitrittshilfe vorgeschlagen. Dass dies ausreicht, kann bezweifelt werden. Im Grunde ist schwer zu verstehen, warum Bulgarien, das etwa gleich groß wie Serbien ist, jährlich achtmal so viel finanzielle Unterstützung erhält.

Mit den finanziellen und sonstigen Anreizen müsste die Konditionalität auf ein neues Niveau gehoben werden. Es geht darum, den Reformbedarf klarer zu definieren, das Monitoring zu schärfen und die Verknüpfung mit der EU-Unterstützung zu präzisieren. Die Rechtsstaatlichkeit steht hier im Zentrum, denn sie ist essenziell für die Teilnahme am Integrationsprozess. Verstärkte Aufmerksamkeit als bisher verdienen auch die illiberalen und autoritären Tendenzen in manchen Ländern.

Insgesamt stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit der EU. Gilt das Versprechen von 2003 auch heute noch? Natürlich müssen die Länder der Region die Hauptarbeit für die Annäherung an die EU leisten. Aber ohne mehr Ermutigung und Unterstützung seitens der EU werden sie dies wohl kaum schaffen. (Stefan Lehne, 5.12.2018)