Als Chansonier stellt Michael Heltau am Freitag im Wiener Burgtheater (17.00) seinen neuen Programmmitschnitt Einen blauen Ballon möcht' ich haben! als CD und DVD vor: ein betörendes Liederfest auf den Spuren von u. a. Jacques Brel. Als Humanist kommt der Schauspieler anschließend im Gespräch mit David Schalko zu Wort: Überlegungen eines über den Zustand unserer Republik Besorgten. Denn: "Gott sei uns gnädig, und dem armen Nachbarn auch."

STANDARD: Auf Ihrer neuen CD wollen Sie unbedingt einen "blauen Ballon" haben. Führt von diesem womöglich ein Weg zur blauen Blume der Romantik?

Heltau: Den Ballon habe ich mir von Peter Altenberg geschnappt. Ein solcher blauer Ballon ist, was du daraus machst. Hältst du ihn in der Hand, besitzt du ihn ewig. Er schwebt vielleicht an die Decke und bleibt dort drei Tage picken. Dann fällt er als totes Säckchen herab. Wenn du ihn auslässt, das heißt: Wenn du deiner Fantasie Futter gibst, dann kommt der blaue Ballon in allen möglichen Varianten zu dir zurück.

Michael Heltau hält Abstand zu allen Erscheinungen des Zeitgeists, auch den politischen. Mit sich selbst will er haushalten: "Ich habe mich nie für mich selbst interessiert."

STANDARD: Das meint?

Heltau: Er lässt sich personifizieren. Er wird zum Menschen, zum Buch oder zu einem poetischen Gegenstand. Ich spreche vom Privileg, das wir schöpferische Menschen genießen. Schauspieler, das ist ein Beruf ohne Netz. Man muss den Verwaltern der Wirklichkeit zurufen: Vergesst uns diese Leute nicht! Jetzt kann mich jeder mit Recht fragen: Wenn du das Netz vermisst, warum hast du dir diesen Beruf ausgesucht? Antwort: Weil ich kein Spekulant bin.

STANDARD: Sie sprechen von Lauterkeit?

Heltau: Ich sage: Wir Künstler sind das Salz. Und ohne dieses Salz wäre eure Suppe eine entsetzlich fade Angelegenheit.

STANDARD: Eben weil kein Netz Sie hält, sind Sie als Schauspieler und Chansonier auch Magier. Darum singen Sie unentwegt vom Verpassen des "richtigen" Zeitpunkts. Sie beklagen den Verlust von Illusionen. Aber die erkennt nur, wer sie verloren hat. Eine Tragödie, oder?

Heltau: In den Tagebüchern von Artur Schnitzler steht eine wunderbare Episode. Er nimmt teil an einer Wiener Gesellschaft, irgendwo in der Gegend von Reichenau. Und er trägt am Abend in sein Buch ein: Wie schön wird das in der Erinnerung gewesen sein! Darin besteht die ganze Magie, die große Erfindung auch des Theaters, seine Verschwendung.

STANDARD: Die worin besteht?

Heltau: Am Anfang war das Wort. Der Text: herrlich. Sei er nun von Shakespeare oder von Ferdinand Raimund. Da sitze ich nun in einer mehr oder weniger gelungenen Vorstellung ... Man sagt übrigens immer, das Talent der Menschen bestehe in der Verlebendigung. Ich antworte: Säße die Begabung nicht im Zuschauerraum, würde das alles nichts nützen. Man teilt zwei, drei Stunden miteinander. Dann ist es weg. Jetzt fängt die wirkliche Begabung an. Denn wann ist eine Vorstellung schon wirklich gelungen? Doch bestenfalls mit Angabe der Zielrichtung. Die Frage lautet also: Was bleibt?

STANDARD: Was bleibt?

Heltau: Ich bin ein wahnsinnig begabter Zuschauer. Man muss mich schon sehr ärgern, damit ich einer Darbietung die Gefolgschaft restlos aufkündige.

STANDARD: Sind Sie begabt in der Kunst des Verzeihens?

Heltau: Spielverderbern kann ich nur schwer verzeihen. So verhält es sich doch auch im Allgemeinen. Schauen Sie sich die Politiker heute an, die, die Ängste schüren: lauter Spielverderber. Denen klebt man Farbetiketten auf. Hinter denen darf sich niemand mehr verstecken. Ob Schwarz, Rot oder, in drei Teufels Namen: noch eine andere Farbe. Die kommen her wie Kinder und machen den anderen mutwillig alles kaputt.

STANDARD: Sie sprechen von Bosheit?

Heltau: Von Bosheit. Gegen Verängstigte lässt sich nichts sagen. Abstoßend sind die Angstmacher. Das Grauenhafteste, was es gibt. Schon allein um der jungen Menschen willen muss man das europäische Projekt hochhalten. Das Erlernen von fremden Sprachen ist unabdingbar. Und eine Schule gegen die Eitelkeit. Als fremdsprachiger Dilettant bist du ein absolutes Lachobjekt! Du darfst nur nicht eitel sein. Du musst mitlachen. Aber es gibt ja auch gutmütige Formen des Verlachens.

STANDARD: Theater feit vor Bosheit?

Heltau: Menschen stehen auf der Bühne mit ein bisschen Text. Früher hielten wir im Burgtheater oben, auf dem Lusterboden, die Proben ab, unter Lindberg, Steinböck oder Benning. Die wiesen uns darauf hin: Unten, auf der Bühne, seien die Verhältnisse schon bedeutend größer. Der Wechsel von der Probe- auf die große Bühne war stets mit einem ungeheuren Effekt verbunden. Die Brust, die Fantasie, alles weitete sich. Wem wäre es da eingefallen, Mikroports zu verwenden? Und ich rede nicht von Antikenstücken.

STANDARD: Sie sprechen dem Können, der Einfachheit das Wort?

Heltau: Ich habe das von Giorgio Strehler gelernt. Auch Peter Brooks Der leere Raum kommt nicht von ungefähr. Warum so viel Dekoration? Die lenkt doch nur ab. Das Theater fängt an zu illustrieren. Wir sprechen aber von der Flüchtigkeit schlechthin, vom Glücksstoff des Theaters, dessen man sich so schwer bemächtigt.

STANDARD: Der Modus Ihrer Arbeit, auf dem Theater wie in Ihren Soloabenden, ist der des Abschiednehmens. Warum sind Sie so begabt für das Abschiednehmen?

Heltau: In der Wirklichkeit muss man es sein. Abschiede gehören von Anfang an zum Leben. Ich habe niemals ein Gefühl dafür gehabt, was man landläufig "Jugend" nennt.

STANDARD: Sie sagen auf Ihrem neuen Album den Satz: "Die Jugend wäre eine schönere Zeit, wenn sie erst später im Leben käme."

Heltau: Weil ich mir einbilde, dass man sie sonst vergeudet. Man sollte sie vital genießen. Aber ich lasse mich doch von keinen Jahreszahlen verschrecken. So wie ich mich für mein hohes Alter nicht loben lasse. Jugend und Alter sind Tagesdispositionen. Ich habe damit überhaupt keine Zeit verloren. Ich habe mich nie für mich selbst interessiert.

STANDARD: Wirklich nicht?

Heltau: Nein, wirklich nicht. Es hätte ja mit 85 auch keinen Sinn, so etwas zu sagen, wenn es nicht stimmen würde. (Ronald Pohl, 5. 12. 2018)