He Jiankui bei seinem letzten öffentlichen Auftritt am 28. November. Seitdem ist sein Verbleib unbekannt.
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Zuletzt wurde Chinas berüchtigter Genomforscher He Jiankui an einem Mittwoch gesehen – sogar von der ganzen Welt. Am 28.November verteidigte er seine Manipulationen an Embryonen vor dem Zweiten Internationalen Wissenschaftsgipfel für menschliches Genom-Editing. Millionen Zuschauer verfolgten die Liveübertragungen und Online-Berichte der internationalen Presse über die Konferenz. Sie sahen, wie die Mehrheit aller anwesenden Forscher He für seinen Tabubruch scharf verurteilte.

Unter Hausarrest?

Von da an verliert sich die Spur des 35-jährigen Skandalprofessors. Er verschwand auf seinem Heimweg von Hongkong aus über die Grenze. Dort arbeitet er an der Wissenschaftsuniversität "Southern University of Science and Technology" in der benachbarten Sonderwirtschaftszone Shenzhen. Hongkongs größte Boulevardzeitung "Apple Daily" meldete, dass Universitätspräsident Chen Shiyi mit He stundenlang über seine umstrittenen Eingriffe redete und ihn an die Universität in Shenzhen zurückorderte. Die Gerüchteküche brodelt seither. Unklar ist, ob He von selbst untertauchte, um Gras über die Aufregung wachsen zu lassen, oder ob er festgenommen wurde. Laut "Apple Daily" soll er auf dem Campus unter Hausarrest stehen, bewacht von Uni-Sicherheitspersonal.

Inzwischen will auch das anfangs zögerliche Peking handeln, nachdem He für seine Experimente von allen seriösen chinesischen Wissenschaftern in Unterschriftenlisten und offenen Briefen verurteilt wurde. Er habe auch dem Image seines Landes geschadet – ausgerechnet, als sich Staatschef Xi Jinping zur G20-Konferenz aufmachte. Überall eilten ihm kritische Schlagzeilen über den unverantwortlichen, gegen alle ethischen Standards handelnden Forscher voraus.

Am 26. November, zwei Tage vor seinem Auftritt in Hongkong, hatte He seine "Bombe" platzen lassen und stolz per Video die Geburt von Zwillingsmädchen bekanntgegeben, deren Erbgut er manipuliert hatte. Nach dem nationalen Aufschrei in China und der internationalen Empörung ordnete Chinas Nationale Gesundheitskommission eine Untersuchung gegen He an, ebenso wie das Ministerium für Wissenschaft und Technologie. Das hatte 2003 Gen-Editing verbieten lassen. He, der offenbar alle amtlichen Vorschriften umging, um seine Versuche zu unternehmen, und diese über obskure, von ihm gegründete Gesellschaften finanzierte, hätte Chinas Gesetze gebrochen.

Vorübergehendes Verschwindenlassen als gängige Praxis

Ist He also deshalb verschwunden? Es wäre kein Problem für den Pekinger Rechtsstaat mit seinen chinesischen Besonderheiten. Die Parteijustiz ist bekannt dafür, unliebsame Personen von heute auf morgen verschwinden zu lassen, ohne dass es außer dem Betroffenen jemand erfährt. In den meisten Fällen greifen sich die KP-Überwachungsbehörden aber keine Forscher, sondern mutmaßliche kriminelle Funktionäre. Sie lassen sie wochenlang an versteckten Orten festhalten, bis sie ihre Verbrechen eingestanden haben und dann den Gerichten zur öffentlichen Aburteilung übergeben werden können.

Das ist seit Amtsantritt von Präsident Xi Jinping bereits zehntausenden korrupten Beamten und Wirtschaftsfunktionären widerfahren. Zwischen 2012 und 2017 wurden darunter allein 440 sogenannte "Tiger" im Rang von Ministern, Provinzführern oder Armeegenerälen festgenommen. Alle tauchten erst Wochen später als geständige Sünder vor Gericht auf. Erst dann hatten sie das Recht auf Anwälte und Richter, erst dann erfuhren auch die Familien von ihrem tiefen Fall.

Niemand ist dagegen gefeit

Vor solchen rechtsbeugenden Praktiken sind selbst parteilose Persönlichkeiten nicht geschützt – egal, wie populär sie sind. Es passierte vergangenen Juli auch dem Filmstar Fan Bingbing, einer Schaupspielerin, die von 62 Millionen Online-Fans verehrt wurde. Sie verschwand drei Monate, ohne dass ihre Verehrer wussten, wo sie war. Dann meldeten sich Steuerbehörden mit einer reuigen Filmdiva. Sie hatten sie verschwinden lassen, um an ihr wegen Steuerhinterziehung ein Exempel zur Abschreckung zu statuieren. Fan musste eine besonders hohe Steuerstrafe von mehr als 100 Millionen Euro berappen. Seit Oktober ist sie wieder auf freiem Fuß.

Spektakulär ging auch der chinesische Interpolchef Meng Hongwei verloren, als er Ende September von Lyon nach China einreiste. Weil seine Frau in Frankreich öffentlich sein Verschwinden anzeigte, musste Peking am 7. Oktober eingestehen, dass er im Gewahrsam chinesischer Behörden wegen mutmaßlicher Korruption sei. Von Meng hörte die Öffentlichkeit bis Ende November nichts mehr. Dann schloss ihn Chinas Beraterparlament (CPPCC) aus seinen Reihen aus. Was ihm vorgeworfen wird, ist bis heute nicht bekannt.

Seit dem 3. November ist auch Chinas bekannter Fotograf Lu Guang verschwunden. Der 57-Jährige wurde in der muslimischen Nordwestprovinz Xinjiang zusammen mit einem anderen Fotografen von der Staatsicherheit mitgenommen. Seine Frau erfuhr das aber erst von den Behörden im ostchinesischen Zhejiang, der Heimat ihres Mannes. Diese waren von ihren Polizeikollegen aus Xinjiang informiert worden. Sie alarmierte daraufhin Ende November die Öffentlichkeit.

Missachtung des Rechts

Bei keinem dieser prominenten Verschwundenen hält sich Peking an eigenes Recht. Vergangenen März hatte Chinas gesetzgebender Volkskongress das erste Überwachungsgesetz gegen Amtsmissbrauch und Korruption verabschiedet. Es verlangt, dass bei allen Festgenommenen – außer in besonderen Lagen und Fällen nationaler Sicherheit – ihre Arbeitsstelle und ihre Familienangehörigen innerhalb von 24 Stunden informiert werden müssen.

Offiziell vermag niemand zu sagen, ob der umstrittene Wissenschaftler He festgenommen wurde. Ein Sprecher seiner Universität bestritt es gegenüber der "South China Morning Post". Fest steht nur, dass He verschwunden ist. (Johnny Erling aus Peking, 5. 12. 2018)