Die Welt um uns herum ist komplex und vielfältig. Zum Glück hat uns die Evolution mit fantastischen Fähigkeiten ausgestattet, die es uns erlauben, uns in dieser Komplexität und Vielfalt zurechtzufinden. In unserem Kopf entsteht durch Erfahren und Lernen ein Modell der Welt, das nicht nur eine Menge Fakten und Zusammenhänge enthält, sondern es uns auch erlaubt, Vorhersagen zu machen. Das ist zum Beispiel sehr nützlich, um zu entscheiden, ob man vor einem herankommenden Auto die Straße noch überqueren kann oder doch besser stehen bleibt. Bei vielschichtigeren Fragen, etwa nach den möglichen Auswirkungen des Klimawandels auf die Umwelt, sind wir jedoch rasch von der schieren Zahl an Einflussfaktoren, den langen Zeithorizonten und komplexen Zusammenhängen überfordert. Wie können wir uns also derartigen Problemen annähern?

Wälder sind komplexe Systeme.
Foto: Rupert Seidl

Virtuelle Ökosysteme

In der Ökosystemdynamik wird der Weg beschritten, komplexe Systeme in kleinere, aber leichter verständliche Teile zu zerlegen, Daten für diese zu sammeln und auf deren Basis mathematische Zusammenhänge herzustellen. Diese Teilmodelle können dann – unter entsprechender Berücksichtigung ihrer Interaktionen – wie Lego-Steine kombiniert werden, um komplexe Ökosysteme wie zum Beispiel Wälder in einem Prozessmodell abzubilden. Ein derartiges Modell stellt unser formalisiertes Systemverständnis dar, das in ein Computerprogramm gegossen die Simulation der Dynamik von komplexen Ökosystemen erlaubt.

Lässt man derartige Modelle laufen, wird die Entwicklung des betrachteten Systems in Abhängigkeit von Anfangsbedingungen (zum Beispiel der aktuelle Zustand der Vegetation) und zusätzlichen Einflussfaktoren (etwa Klimadaten) simuliert. Anders als in der Wirklichkeit lassen sich in einem virtuellen Ökosystem einzelne Einflussfaktoren aber kontrollieren. Das macht es zum Beispiel möglich, die Auswirkungen des Klimawandels gegenüber einer hypothetischen Fortschreibung des vergangenen Klimas abzuschätzen.

Der aktuelle Zustand des Waldes ist eine wichtige Eingangsgröße in der Simulation, hier illustriert am Beispiel des Nationalparks Kalkalpen in Oberösterreich.
Grafik: Werner Rammer

Wald als Klimaretter oder Klimaopfer?

Wird unser Wald in Zukunft das Klima kühlen und zur Abpufferung des Klimawandels beitragen? Oder werden die negativen Auswirkungen des Klimawandels auf den Wald (zum Beispiel mehr Waldschäden durch Borkenkäfer) so groß sein, dass der Wald sogar zum Klimawandel beiträgt? Das ist ein Beispiel für eine komplexe Fragestellung, die wir mittels eines Prozessmodelles untersuchen. Die Fragestellung ist deswegen komplex, weil zu ihrer Beantwortung unterschiedliche und zum Teil gegenläufige Prozesse berücksichtigt werden müssen. So verringern mehr Waldschäden durch Borkenkäfer zwar die Kohlenstoffspeicherung im Wald (und tragen somit zu einer verstärkten Erwärmung bei), gleichzeitig reflektieren die dadurch entstehenden Freiflächen jedoch auch mehr Strahlung zurück an die Atmosphäre, was wiederum eine kühlende Wirkung hat.

Auch die Baumartenzusammensetzung im Wald bleibt nicht konstant – ein Wechsel hin zu mehr wärmetoleranten Laubbaumarten (siehe Abbildung) verringert dabei tendenziell die Kohlenstoffspeicherung im Holz, gleichzeitig hat Laubwald hat aber auch eine stärker kühlende Wirkung durch Verdunstung. Die Frage nach dem Netto-Effekt auf das Klima ist also nicht mit einfachen Kausalzusammenhängen zu beantworten. Durch Simulationen mit einem von uns entwickelten Prozessmodell konnten wir zeigen, dass Wald in Mitteleuropa auch in Zukunft in Summe kühlend auf das Klima wirkt. Dieser kühlende Effekt nimmt jedoch durch die erwarteten zukünftigen Veränderungen im Wald ab – der Wald alleine wird unser Klima also nicht retten können.

Die simulierte Baumartenzusammensetzung unter (moderatem) Klimawandel im Nationalpark Kalkalpen.
Grafik: Werner Rammer

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Eine zentrale Frage ist natürlich, inwieweit die verwendeten Modelle vertrauenswürdig sind. Modelle sind immer Vereinfachungen der Wirklichkeit. Es besteht daher die Möglichkeit, dass relevante Aspekte eines Systems nicht oder nur unzureichend abgebildet sind. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit besteht also darin, Modelle gegen verschiedenste Daten zu testen und im Zuge dieser Tests die Modelle zu verfeinern und zu verbessern. So wurde das oben beschriebene Waldmodell vor seiner Anwendung mit lokalen Waldwachstumsdaten aus Dauerversuchsflächen verglichen. Gleichzeitig haben wir das Modell auch in anderen Ländern Europas sowie auf anderen Kontinenten getestet, um sicherzugehen, dass es auch unter stark unterschiedlichen klimatischen Bedingungen realistische Ergebnisse liefert.

Dieser Prozess der Modellevaluierung ist aufwendig, führt aber im Lauf der Zeit dazu, dass wir immer besser verstehen, welche Aspekte ein Modell gut abbildet, aber auch, wo seine Limits liegen. Vor allem aber werden in diesem Prozess mit jeder Iteration die Unsicherheiten in unseren Projektionen kleiner. Im kurzlebigen Wissenschaftsbetrieb ist es jedoch oft eine Herausforderung, die notwendigen Ressourcen für diese Art der Methodenentwicklung über Jahre sicherzustellen. Grundlagenforschungsprogramme – etwa jene des Wissenschaftsfonds FWF – sind daher äußerst wertvoll und erzielen einen über die unmittelbaren Ergebnisse eines einzelnen Projektes hinausgehenden Mehrwert.

Modellierung und empirische Forschung befruchten einander.
Foto: Rupert Seidl

Von der Simulation zur Realität (und zurück)

Nicht zuletzt liegt der Wert von Modellen aber auch darin, neue Fragen anzustoßen beziehungsweise bestehende Wissenslücken aufzuzeigen. Oft führt die Arbeit am virtuellen Ökosystem dazu, dass neue Feldversuche entwickelt und neue Messkampagnen durchgeführt werden. Somit besteht ein sich gegenseitig befruchtender Kreislauf aus empirischer Forschung und modellbasierter Wissenschaft. Kombiniert mit steigender Datenverfügbarkeit (zum Beispiel global verfügbaren Satellitendaten) und wachsender Computerleistung führt dieser Prozess langfristig dazu, dass unsere Fähigkeit auch die Dynamik von komplexen Ökosystemen vorherzusagen, immer besser wird. Und diese Kapazität zur Simulation kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Lösungsansätze für unsere aktuellen Umweltprobleme zu entwickeln. (Rupert Seidl, Werner Rammer, 6.12.2018)