Friedrichshof. Menschenkreis. Die Kinder bekommen Schokolade, weil sie getanzt haben. Vilma nicht. Heimlich steckt ihr Otto ein paar Stücke zu.

Ich sehe seine Hand. Sie ist zu einer Faust geballt und leuchtet aus der Dunkelheit heraus – als ob man mit einer Kerze durch ein nachterfülltes Haus wandelt und nur Schemen erahnen kann. Das Schwarz, das Weiß: in aller Reduktion liegt eine Kraft in der Zeichnung vor mir, die mich in eine bis dahin unbekannte Welt entführt.

Auf dem nächsten Blatt Rauch, Nebel – ein zarter Schleier von Vergangenem, das in Vilma immer deutlicher zum Vorschein kommt. Sie sucht nach einer Sprache, einer losen Narration, um das Geschehene ein für alle Mal zu fassen und sich ihm aussetzen zu können. Textfragmente tauchen auf: Otto sitzt auf einem schwarzen Lederdrehstuhl. Um ihn sind viele Leute. "Weißt du, wer dein Vater ist? ... Na, der Robert." Robert sitzt neben Otto und lacht. "Na geh, eh nid ... der Michael is es!" Michael steht links von mir an der Wand.

Es sind wenige Wochen bis zur Drucklegung und Präsentation von Vilmas Abschlussarbeit an der Angewandten in Wien. Sie hat die Vergangenheit von sich gezeichnet.

Schrei der Selbstauflösung: Vilma Pflaum ist Fotografin und Modell zugleich.
Vilma Pflaum

Keine Bilder an den Wänden

Wir befinden uns in ihrer Wohnung. Es ist finster in dem Zimmer. Vilmas Pupillen weiten sich. Das Schwarz breitet sich aus, bis nur noch ein kleiner goldener Ring ihrer Iris bleibt, um den letzten Rest an Licht zu fangen. Keine Bilder an den Wänden, nur das Weiß; die Leere, in ihrer unendlichen Struktur. Es ist der Raum, in dem ihre ersten Skizzen des Erinnerns entstanden. Zwei Mappen liegen auf dem Boden. Zeichnungen, an denen sie schon über zwei Jahre arbeitet.

Vilma hat einige Blätter herausgenommen und auf ihren Schoß gelegt. Mit ihren langen, zarten Fingern fährt sie die Striche nach. Manchmal auf dem weiten Weiß nur einzelne Linien, die mit einer Selbstverständlichkeit daherkommen, die nur eine Muttersprache liefern kann. Auf der nächsten Seite eine mit Rohrfeder und Tusche errungene schwarze Fläche. Das Vergangene kann nie ganz im Dunkeln des Vergessens bleiben. Dazwischen Licht.

Alles hat mit ihrer Geschichte zu tun

Vilma spricht mit Bedacht und Ruhe. Bei jedem Wort ringt sie, um die passende Sprachfarbe. Sie steckt mitten in einem Prozess, der sie an verschüttete Orte in sich selbst geführt hat. Der Nerv der Zeit liegt blank, und Vilma strahlt eine Verletzlichkeit aus, die in jedem Strich vor mir deutlich wird. Sie kommentiert die Bilder nicht. Ohne Zensur und Wertung hat sie Szenen aus ihrer Erinnerung erforscht und aufgezeichnet, was in ihr noch zu finden war. Bruchstücke manchmal nur: eine rote Matte. Fliesen in einem Bad. Alles hat mit ihrer Geschichte zu tun.

Gitterstäbe. Zwei Beamte begleiten Vilma und ihre Schwes- ter in den Besucherraum. Ihre Mutter kam etwas früher, um Zeit mit Otto alleine zu haben. Die Kinder freuen sich auf die regelmäßigen Besuche, weil sie so viel Almdudler trinken dürfen, wie sie wollen. Danach porträtiert er sie.

Die Wunden nachzeichnen

Mit sechs Jahren hat Vilma den Fried-richshof verlassen und nach Bayern ziehen müssen. Sieben Jahre später ist Muehl aus der Haft entlassen worden und nach Portugal gegangen.

So nah das Meer. Kein Gras. Ausschließlich das Rot der Erde. Vilma sitzt bis spät in die Nacht in einer dunklen Ecke im Wald. Ihre Beine sind zum Körper gezogen, und sie weint. Was Otto während des Abendessens gesagt hat, geht ihr nicht mehr aus dem Kopf: Vilma ist nun 14 und kann, wenn sie möchte, Teil der erwachsenen Sexualität werden.

Dieses Bild ist anders. Klarer. Nicht mehr ein Detail aus dem Inneren ist sichtbar, sondern ein Blick von außen. Das Mädchen zeichnet das Mädchen. Comichaft. Auf dem nächsten Blatt. Vilma malt Otto, wie er ein Porträt von ihr radiert. Er scheint mit dem Stuhl und der Leinwand auf seinem Schoß verschmolzen zu sein. Kaum etwas Menschliches erkennt man noch. Als hätte sie ihn in einen Käfer verwandelt.

In der Fotografie sucht Vilma Pflaum Spiegelbilder, in denen sie sich selbst nachvollziehen kann.
Vilma Pflaum

Im Bademantel der Mutter

Details ihres Körpers folgen. Vilma lernt sich selbst kennen. Sie spielt mit ihren Reizen und genießt Ottos Blicke. Mit dem Bademantel ihrer Mutter sitzt sie neben ihm und liest laut aus Marquis de Sades Juliette.

Paris. Otto macht Vilma zum Teil einer Materialaktion. In Hemdchen und Straps mit schwarz bemalten Lippen stürzt sie kreischend auf das Publikum zu. Ihre Hände sind zu Krallen geformt. Vilma tanzt mit einem Mann, beißt und schlägt ihn. Eine Fotografie von ihr wird auf die erste Seite eines Magazins gedruckt.

Wir brechen ab. Blatt für Blatt sind wir durch Vilmas Bilder gerast, aber sie sind ihr noch zu nah. Im Erinnern hat sie sich eines Mediums bedienen müssen, dem sie sich lange verweigerte. Ab dem Zeitpunkt, an dem sie die Kommune mit 22 Jahren verließ und an der Angewandten begann, nahm sie keinen Stift mehr in die Hand.

Die Welt spüren, wie sie ist

Wir setzen uns an den Tisch und reden über das Studium. Die Fotografie fasziniert Vilma sofort. Sie spricht anders jetzt. Leichter. Ihre etwas spröden Lippen beben, und sie zeigt mir ihre ersten Selbstporträts: das Spiel mit Licht und Schatten. Sie reißt sich los und inszeniert ihren Körper vor der Kamera. Sie will die Wunden nachzeichnen, die Schmerzen, die sie erleiden musste. Sie ist Modell und Fotografin zugleich. Mit der Kamera versucht sie, sich selbst zu finden.

Die Fotografie wird zur Spurensuche – die Linse zu ihrem Spiegelbild, in dem sie sich selbst nachvollziehen kann. Nackt. Alleine. Im Wald wie eine Leiche liegend oder im Schrei der Selbstauflösung. Sie möchte die Welt spüren, wie sie ist, und nicht, wie sie ihr gezeigt wurde. Erst als der Abschluss des Studiums naht, geht Vilma zurück, und die Krise beginnt. Sie zeichnet wieder, und sofort holt sie das Vergangene ein. Mit dem Stift in der Hand ist ER wieder da. Zwangsläufig.

Pflaum erforscht Szenen aus ihrer Erinnerung.
Vilma Pflaum

Die Ärzte nennen es Manie

Vilma arbeitet an ein, zwei Bildern. Sie denkt sich dabei nichts und merkt erst eine Woche später, dass sie nur noch auf dem Blatt lebt. Weder isst noch trinkt sie. Vilma lässt ihr Innerstes sprechen, und es zeichnet sich von selbst. Sie erinnert sich, indem sie sich entäußert. Sie radiert sich zurück zum Nullpunkt – dort wo ER alles ist und sie nichts. Seine Linie ist ihre Linie. Ihre Linie ist seine Linie. Sie kämpft gegen ihn an und sich von seiner Übersetzung frei. Mit jedem Strich findet sie sich neu. In seiner Lüge wird ihre Wahrheit sichtbar.

Vilma bricht zusammen. Nur noch im Zeichnen spürt sie sich und schließt manchmal die Augen, wenn sie mit dem Rad fährt, um auf den Aufprall zu warten. Es kümmert sie nicht mehr. Die Ärzte nennen es Manie, was leichter zu merken ist als der genaue Fachausdruck. Von einem Moment auf den anderen ist sie voller Energie und danach völlig niedergeschlagen. Sie schreit, aber das Glas um sie ist zu dick, als dass jemand es hören könnte.

Nichts ist schwieriger, als verstehen zu lernen

Vilmas Notizbücher sind voll. Sie wagt es kaum, sie aufzuschlagen. Die Bilder sind gezeichnet. Die Worte geschrieben. Sie muss es jetzt zu einer Geschichte ordnen, als wäre es gar nicht ihr Erleben: der alte Mann und eine Idee, die ihr den Körper und fast auch den Geist geraubt hat.

In der Nacht träume ich Vilmas Bilder weiter. In aller Reduktion und Zurückhaltung hat sie meine Fantasie befeuert, und ihre Zeichnungen entwickeln ein Eigenleben in mir. Mit einer Kerze gehe ich durch das Haus ihrer Erinnerung, bis ich mir selbst die Angst vor dem Unbekannten nehme. Nichts ist schwieriger, als verstehen zu lernen. Trotz allem Schmerz gab es nur eine Möglichkeit, um sich zu befreien. Vilma musste sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen. Es wäre falsch zu sagen, dass sie mit ihrem mutigen und herausragenden Buch aufze ich nen einen Abschluss gefunden hat. Vielmehr ist es der Beginn gewesen, sich ihres eigenen Körpers zu ermächtigen und über ihre Geschichte hinauszuwachsen; die nur im Dialog die Schattenwelt verlassen kann. (Mario Schlembach, 7.12.2018)