Ein nächtlicher Cicerone mit der inneren Trostlosigkeit eines Exilanten: Gaito Gasdanow.

Verlag Carl Hanser

Gaito Gasdanow, "Nächtliche Wege". Übersetzung von Christiane Körner, € 23,70 / 288 S. Verlag Carl Hanser, 2018

Hanser

Wer in der Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts als russischer Emigrant nachts in Paris Taxi fuhr, ist von der Verzauberung der Welt gründlich verschont geblieben. Unter Dieben, Huren, Zuhältern, haltlosen Trinkern wuchsen Abscheu und Trübsinn. Dazu kam die Verzweiflung des Exils, die Aussichtslosigkeit einer Rückkehr.

Ein solcher Nachtfahrer durch die Pariser Unterwelt war der Exilrusse Gaito Gasdanow. Als Sohn ossetischer Eltern 1903 in St. Petersburg geboren, trat er 16-jährig in die Weiße Armee ein und strandete 1923 auf der Flucht vor den Bolschewisten über Umwegen in Paris. Dort schlug er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, unter anderem als Lastenpacker und Lokomotivenwäscher. Später entschied er sich fürs nächtliche Taxifahren, um tagsüber an der Sorbonne studieren zu können. Letztlich chauffierte Gasdanow insgesamt 24 Jahre lang nachts durch Paris.

Begabte Taxifahrer wissen ihr Geschäft als Schule der Menschenkenntnis zu nützen. Mit jeder Fuhre erweitern sie ihren Wissensstand. Das macht sie freilich noch nicht zum Dichter. Ein solcher aber war Gasdanow: Er speicherte seine nachhaltigsten Erlebnisse und skurrilsten Szenen, um sie seiner subtilen, hochpoetischen Sprachkraft auszuliefern. So entsteht vor den Augen des Lesers ein faszinierendes Defilee unterschiedlichster Gestalten, von denen einige markante Habitués mit ihren Schicksalen und Sottisen im Verlauf der erzählerischen Episoden immer wieder auftreten, auseinandergehen und wie zufällig wiederkehren.

Soziologische Neugier, feinsinnige Ironie

Es ist ein außergewöhnliches Lesevergnügen, in Begleitung eines so klarsichtigen nächtlichen Cicerone die Bekanntschaft dieser ausgesuchten Außenseiter und schrägen Nachtvögel zu machen, zumal der Erzähler sie mit einer gewinnenden Mischung aus soziologischer Neugier und feinsinniger Ironie ins Visier nimmt. Als mobiler Hermes wartet er mit seinem Taxi vor Cafés und Varieté-Hallen, trinkt sein Glas Milch in Kneipen und Kaschemmen, unterhält sich mit Aussteigern, Vagabunden, nächtlichen Barphilosophen. Die innere Distanz zu dem Erlebten sucht er zuweilen geradezu schroff zu wahren: "Im nächtlichen Paris fühlte ich mich während der Arbeit tagaus, tagein wie ein Nüchterner unter Betrunkenen. Dieses ganze Leben war mir fremd und weckte in mir nichts als Ekel oder Mitleid, all diese Freunde von Nachtbars oder einschlägigen Etablissements, diese auf ihre Art Verliebten ..."

Indes, stets obsiegt die Empathie mit den Hilflosesten der Traumtänzer und Herumtreiber, seien es versoffene Clochards, traurige Huren, verquere Halbweltdamen oder von der Revolution vertriebene Russen wie der Erzähler selbst. Es sind Menschen mit vom Schicksal geschärftem Profil, deren Eigensinn und Hartnäckigkeit der Autor behutsam nachspürt: "Die Verwandlungen, die Menschen unter dem Einfluss veränderter Lebensumstände durchmachten, waren so stupend, dass ich es anfangs einfach nicht glauben wollte. Ich hatte den Eindruck, in einem gigantischen Labor zu leben, wo mit menschlichen Daseinsformen experimentiert wurde, wo das Schicksal voller Häme Schönheiten in Greisinnen, Reiche in Arme, ehrenhafte Menschen in berufsmäßige Bettler verwandelte – und das mit erstaunlicher, unglaublicher Perfektion."

Philosophische Nachdenklichkeit

Die Tiefgründigkeit von Gasdanows Einschätzungen menschlicher Schicksale berührt umso mehr, als sie spürbar einer inneren Trostlosigkeit des Exilanten abgetrotzt ist. Seine eigene Verzweiflung und existenzielle Unbehaustheit vermag der melancholische Beobachter nicht zu verbergen, und das fügt seiner Perspektive eine zartfühlende Strenge und philosophische Nachdenklichkeit bei.

Auf einen einzigen vollauf zufriedenen Menschen trifft der Erzähler bei seinen nächtlichen Streifzügen: Es ist ein Kellner in einem Nachtcafé, der von vielen mitleidig belächelt wird, weil er nichts als seine Arbeit braucht, um glücklich zu sein.

Nicht von ungefähr hat man Gasdanow in die Nähe des französischen Existenzialismus gerückt. Er sei von Camus beeinflusst, heißt es. Doch mindestens so viel von der Frische seines Augenscheins, von der zupackenden Art der Beobachtung dürfte er der Anregung durch Célines damals wie ein Meteor in der literarischen Szene erschienenen Roman Reise ans Ende der Nacht verdanken. Und Julien Green mit seinen sanften Schreckensbildern gehörte seinerzeit gleichfalls zu den vielbeachteten Matadoren der Pariser Literaturszene.

Nächtliche Wege wurde 1941 fertiggestellt, erschien aber erst 1952 in New York in einem russischen Exilverlag. In der feinnervigen Übersetzung von Christiane Körner wird dieses Meisterwerk der Erzählkunst zum ersten Mal auf Deutsch vorgestellt. Es übertrifft die bisher in deutscher Übersetzung erschienenen Gasdanow-Romane Das Phantom des Alexander Wolf (2012), Ein Abend bei Claire (2014) und Die Rückkehr des Buddha (2016) durch seine einzigartige Porträtkunst und die Lockerheit der episodischen Phrasierung. Seinen Durchbruch als weltliterarisch bedeutsamer Autor hat Gasdanow nicht mehr erlebt: Er starb 1971 in München, wo er das russische Programm von Radio Liberty geleitet hatte. (Oliver vom Hove, 7.12.2018)