Buchpreisträger Paul Lendvai.

Foto: Usslar

Europa ist in Gefahr. Das muss gerade bei einem so ehrenvollen Anlass wie der Auszeichnung durch den Europäischen Buchpreis offen ausgesprochen werden. Als ein Zeitzeuge, der von den ungarischen Nazis fast umgebracht und von den ungarischen Kommunisten eingesperrt und nach der Freilassung mit einem dreijährigen Berufsverbot bestraft wurde, warne ich gerade hier in diesem Haus vor dem Gift des Nationalismus, des Rassismus, des Antisemitismus. Der entfesselte Fremdenhass löste zwei Weltkriege aus, die Europa fast zerstört haben. Man braucht keine langen Erklärungen über die internationale Lage, um die fast zeitlose Gültigkeit der Warnung Christopher Clarks von den "Schlafwandlern" auch ohne Gedenktage zu verstehen.

Keine Anklage

Die englische erweiterte Ausgabe meines Buches "Orbán – Europe's new strongman" ist weder eine Anklage noch ein Alarmruf, sondern eine nüchterne und sachliche Beschreibung des Aufstiegs des begabtesten und gefährlichsten Politikers Ungarns und wohl auch Mitteleuropas. Viktor Orbán hat nach einem liberalen Anfang den Nationalismus früh als das erfolgreichste Mittel zur Mehrheitsbeschaffung entdeckt. Er hat in seiner bisherigen Karriere stets Glück gehabt, auch mit der Europäischen Union. Sie ist die erste Institution in der modernen Geschichte, die indirekt eine Kampagne gegen sich selbst, gegen die Werte, die sie repräsentiert, gegen ihr eigenes raison d'etre finanziert!

Erinnerung an Stefan Zweig

Deshalb muss auch heute das geistige Erbe von Jacques Delors, der großen Gestalt der europäischen Integration, dem Gründer des Europäischen Buchpreises, bewahrt bleiben. Ohne Mut, ohne Offenheit, ohne Toleranz, ohne Verständnis für die anderen kann es keine Zukunft Europas geben. Deshalb halte ich es für sehr wichtig, dass vor mir unser Gastgeber, der verehrte Abgeordnete Monsieur Jean-Marie Cavada, hier an die Botschaft des großen österreichischen Schriftstellers, Stefan Zweig erinnert hat. Mehr als 75 Jahre nach seinem Selbstmord in Petropolis erleben wir eine Art "Konjunktur" seiner Gedanken und seiner Warnungen. Gerade hier ist es passend, an seine symbolträchtige Korrespondenz während des Ersten Weltkrieges mit Romain Rolland, des anderen großen, europäisch gesinnten Romanciers zu erinnern. Es freut mich, dass dieser Tage, wenn auch etwas verspätet, nämlich 73 Jahre nach der Befreiung Österreichs, endlich ein Platz in Salzburg nach Stefan Zweig benannt wurde. Auch in meinem Leben hat dieser große Kosmopolit eine Schlüsselrolle gespielt: über ihn hielt ich als Gymnasiast in Budapest meine erste öffentliche Rede und dieser Anlass war die Initialzündung für die Wege und Irrwege, die mich nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes nach Österreich führten.

Polen und Ungarn

Ich möchte auch meinen besonderen Dank dem Präsidenten der internationalen Preisjury, Krzystof Warlikowski, dem berühmtesten polnischen Regisseur, für seine Laudatio aussprechen. Die besonderen Beziehungen zwischen Polen und Ungarn, sowie zwischen Polen und Österreich sind allgemein bekannt. Auch für mich waren die Freundschaften mit solchen Persönlichkeiten wie Wladyslaw Bartoszewski, Bronislaw Geremek und Adam Michnik bestimmende und bereichernde Erfahrungen.

Vertreibung der CEU

Da sich die EU-Kommission und das Europäische Parlament wiederholt bei ihren Betrachtungen und Warnungen über die Entwicklung in Ungarn auch mit der gefährdeten Zukunft der Central European University (CEU) beschäftigt haben, möchte ich diese Tribüne nützen, um die raffinierte und anscheinend bis auf weiteres endgültige Vertreibung dieser weltweit angesehenen Institution zu verurteilen. Umso glücklicher bin ich, dass diese angesehene Hochschule schrittweise nach Wien übersiedeln kann und dass, trotz einer ferngesteuerten Kampagne, der Bundeskanzler, der Bürgermeister und der zuständige Bundesminister die Ansiedlung der CEU ausdrücklich begrüßt haben.

Der Verrat der Intellektuellen

Anlässlich dieser und anderer besorgniserregenden Geschehnisse in Ungarn erinnere ich an den Warnruf von Julien Benda in seinem berühmten Essay "Der Verrat der Intellektuellen" (La Trahison des Clercs, 1927). Es ist unsere Aufgabe nicht nur in Brüssel, sondern überall gegen die Offensive der neuen fremdenfeindlichen, nationalpopulistischen Barbaren von Moskau bis Mailand, von Budapest bis Warschau aufzutreten. (Paul Lendvai, 6.12.2018)