Der letzte Mensch ist in Ulrich Köhlers Film "In My Room" auch der erste Mensch.

Foto: Polyfilm

Ulrich Köhler (48) ist ein Filmemacher, der der Berliner Schule zugerechnet wird. Er ist mit der Regisseurin Maren Ade verheiratet und lebt in Berlin.

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Der populären Erzählung einer bis auf einen letzten Menschen entvölkerten Welt verleiht Ulrich Köhlers Film In My Room eine nüchterne Wendung. Armin (Hans Löw) bleibt mit all seinen Unsicherheiten allein zurück. Eine unerwartete Chance für einen Neuanfang, den der etwas unbeholfene Berufsjugendliche selbst wohl nie hingekriegt hätte. In My Room ist ein Film voller kluger Details und subtiler Verschiebungen. Er fragt danach, wie viel vom Alten wiederkehrt, wenn plötzlich alle Optionen offen sind. Köhler, einer der einfallsreichsten deutschen Gegenwartsregisseure, erzählt im Interview von seinen Einflüssen und wie viel der Film mit ihm selbst zu tun hat.

STANDARD: Eine Welt ohne Menschen – ein Topos, der aus Literatur und Genrekino vertraut ist. Können Sie mir Bezugspunkte nennen?

Köhler: Für mich war die Literatur prägender als der Genrefilm. Eigentlich handelt es sich aber um eine Kinderfantasie. Ich bin in Afrika aufgewachsen, mein Bruder und ich waren oft auf uns allein gestellt in der Natur. Nun wollte ich die Frage stellen, wer man wäre, wenn man von sozialen Zwängen frei wäre. In der Literatur, in David Marksons Roman Wittgensteins Mätresse oder bei Arno Schmidt, sind die Figuren nicht unbedingt unglücklich. Sie sind allein, finden damit aber auch zu sich selbst.

STANDARD: Eine Dystopie, in der eine Utopie liegt ...

Köhler: Als wir den Film gedreht haben, nannten wir den zweiten Teil immer den Paradiesteil ...

STANDARD: Was die sozialen Zwängen anbelangt: Verstehen Sie den Film als Zivilisationskritik? Es geht ja um einen Mann um die 40, der ins Strudeln geraten ist.

Köhler: Das war der andere Ausgangspunkt. Ich hatte immer Probleme mit dem bürgerlichen Lebensentwurf. Jetzt habe ich eine Familie, wohne in einer Wohnung, muss meine Kinder ernähren. Wir führen ein bürgerliches Leben. Aber mein Leben hätte auch einen anderen Weg nehmen können.

STANDARD: Das heißt Armin, Ihre Hauptfigur, verkörpert auch eine alternative Version Ihrer selbst?

Köhler: Ja, ich habe auch Freunde, die mit 48 Jahren noch ins Berliner Berghain gehen und da auflegen. Das sind unterschiedliche Lebensentwürfe. Aber ich frage mich, ob nicht beide Versionen mit Freiheitsverlust verbunden sind. Der fortschrittliche, studentische Lebensentwurf ist ja auch von vielen Ritualen geprägt. Von Normen und Strukturen, wie der bürgerliche Alltag.

STANDARD: Die absolute Freiheit ist nicht umsetzbar?

Köhler: Ich habe ja auch Philosophie studiert und habe nie eine Definition von Freiheit gefunden, die mich überzeugt hat. Es geht jetzt weniger darum, dass wir mit der Freiheit nichts anfangen können, als darum zu fragen, was Freiheit überhaupt ist. Wie soll das gehen, nicht determiniert zu sein? Es ist ja immer etwas übrig. Im Film verschwinden die Menschen, aber es gibt gleich die Interaktionen mit Tieren.

STANDARD: Im Kino könnte man Freiheit natürlich auf tausend Arten ausleben. Wie grenzt man das dann ein, wie siebt man aus?

Köhler: Das war die Schwierigkeit. Am Anfang gab es noch einen Berlin-Teil mit einer Autofahrt, die in einer Kollision mit einem Bierbike endet – da ging's mit mir durch. Davon blieb nur diese videospielähnliche Fahrt auf der Autobahn übrig. Ein emotionaler Moment, weil sich der Protagonist da für das Leben entscheidet. Es gibt zwei Motive in der Literatur: Bei Glavinics Die Arbeit der Nacht hält der Protagonist das Alleinsein nicht aus, bei Schmidt streunt er jedoch glücklich durch die Hamburger Kunsthalle und baut sich ein Häuschen. Ich habe mich für die zweite Variante entschieden.

STANDARD: Armin geht aufs Land, nach Italien, und lebt dort wie ein Bauer. Ging es auch um Männlichkeitsbilder? Um die Wiederentdeckung körperlicher Arbeit?

Köhler: Das ist wohl der Einfluss von Das neue Buch vom Leben auf dem Lande, einer Bibel für Aussteiger aus den 70ern. Da lernt man alles, von Ackerbau bis zum Nähen. Das liegt auch in der Hütte von Armin herum. Ich hatte den Afrika-Bezug, wie gesagt, später ging mein Patenonkel mit mir auf Survival-Touren durch den Wald. Da haben wir übernachtet und geangelt.

STANDARD: Die Rückkehr ins Paradies ist immer verstellt. Auch in "In My Room" kommt mit einer Frau die Differenz ins Spiel. Wie hat sich das entwickelt?

Köhler: Der Film ist von einer Figur heraus gedacht. Eva ist auch eine Projektion. Das ist ein Gedanke aus Schmidts Schwarze Spiegel, in dem es um einen Menschen geht, der in einer menschenleeren Welt bürgerlich wird. Und der Zufriedenheit erreicht, Glücksmomente erlebt. Und dann gibt es die Möglichkeit, dass das Glück noch größer wird. Man projiziert sein Modell auf den anderen. Und sieht den anderen gar nicht mehr.

STANDARD: Man kann die Freiheit eigentlich nur geben ...

Köhler: ... dem anderen, genau. Darum geht es mir letztlich.

STANDARD: Sie fangen diesen Prozess ruhig, beobachtend ein. Mit einer gewissen Zurückhaltung.

Köhler: Ich hatte Lust, zu meinem ersten Film Bungalow zurückzukehren, der auch von Bruno Dumonts erstem Film inspiriert war. Es ging mir um eine von außen beobachtete Körperlichkeit. Auf jeden Fall war es nicht identifikatorisch gedacht. Aber es gab so Momente, da dachte ich, ich drehe einen Douglas-Sirk-Film: die Szene mit dem Elch und dem blauen Kleid, der Abschiedskuss – wie bei einem Melodram.

STANDARD: In allen Ihren Filmen gibt es Momente einer solchen Ausweitung ins Surreale.

Köhler: Das ist ein spielerischer Impuls. Und der Wunsch, diese Realismusbehauptung zu brechen. Das ist wie bei der Freiheitsdefinition: Die einzige Realismusdefinition lautet für mich, dass man von den eigenen Erfahrungen ausgehen muss. Und dass man damit eine Geschichte erzählt. (INTERVIEW: Dominik Kamalzadeh, 8.12.2018)