Turit Fröbe hat sich Schwammerl- und Schmetterlingsbüchern zum Vorbild genommen. "Alles nur Fassade? " ist eine Einladung, einen liebevollen Blick auf das Alltägliche zu werfen. Ein Gespräch.

STANDARD: Sie haben sich sehr intensiv mit Fassaden aus mehr als einem Jahrhundert beschäftigt. Haben Sie eine Lieblingsepoche?

Fröbe: Ich habe schon seit langer Zeit ein Faible für die Fünfzigerjahre mit ihren Mosaiken, Buntglassteinen und fröhlichen, filigranen Formen. Aber das schlägt sich im Buch in keinster Weise nieder. Ich habe sehr darauf geachtet, allen Epochen mit der gleichen Wertschätzung zu begegnen.

STANDARD: Gibt es eine Nichtlieblingsepoche?

Fröbe: Ich habe gewisse Schwierigkeiten mit den Neunzigern. Das ist die einzige Dekade, in der ich keine materiellen und formalen Vorlieben erkenne. Wenn man den Dekonstruktivismus ausklammert, bleibt von den Neunzigern nicht viel übrig.

STANDARD: In Ihrem Buch "Alles nur Fassade?" nehmen Sie den Leser an der Hand und geben ihm Werkzeuge mit auf den Weg, mit denen er das Entstehungsdatum eines Gebäudes bestimmen kann. Was sind denn die wichtigsten Elemente?

Fröbe: Den ersten und vielleicht auch besten Anhaltspunkt liefern die Fenster. Weitere Anhaltspunkte für die Bestimmung eines Gebäudes sind Form, Materialgebung und Siedlungsbau. Alles schön knapp und kompakt auf einer Doppelseite abgehandelt.

Mit der Moderne verschwinden Stuck und Dekor. In dem Moment sind die Fenster zu einem Gestaltungsmittel und Datumslieferanten geworden.
Fotos: Turit Fröbe, VG Bild-Kunst Bonn

STANDARD: Warum ausgerechnet Fenster?

Fröbe: Üblicherweise betrachtet man in der Architekturgeschichte als Allererstes den Dekor und den Fassadenstuck. Doch das ist im 20. Jahrhundert schwierig, denn mit der Moderne haben die Architekten begonnen, auf den Dekor zu verzichten. In dem Moment sind die Fenster zu einem eigenständigen Gestaltungsmittel geworden, mit dem man die Errichtung eines Gebäudes sehr genau datieren kann. Jedes Jahrzehnt hat seine eigene Besonderheit und seine eigenen technischen Innovationen.

STANDARD: Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Fröbe: Anhand der Scheibengröße kann man sehr gut auf die Fertigungstechnik und somit auch auf die Entstehungszeit schließen. Das trifft etwa auf Schaufenster zu. Ein weiteres schönes Beispiel ist der Einsatz von quadratischen Fenstern. Zwar wurden auch in den 1920er-Jahren bereits quadratische Fenster eingebaut, aber so richtig in Mode kamen die dann in den Fifties – entweder als Einscheibenfenster oder als mehrteilige Fenster mit einer symmetrischen oder asymmetrischen Teilung.

STANDARD: Quadratische Fenster gab es doch auch in den Achtzigerjahren.

Fröbe: Das stimmt. Aber in den Achtzigern wurden vor allem Mittelkreuzstock-Fenster geplant, also quadratische Fenster mit quadratischen Sprossen. So etwas würde man in den Fünfzigerjahren nie finden!

STANDARD: Kann man das denn immer so genau sagen?

Fröbe: Ausnahmen bestimmen immer die Regel, denn Architekten waren und sind individuelle, künstlerische Wesen. Und die Launen der Bauherren spielen natürlich auch eine Rolle! Aber diese Ausreißer sind in der Tat sehr selten.

STANDARD: Sie sprechen unter anderem von gelutschten Ecken, Badewannenbalkonen und Fenstersprossen in Aspik. Warum diese einfache, fast naive Sprache?

Fröbe: Ich setze auf einen schnellen Lerneffekt. Dazu ist eine eingängige Sprache mit verbalem und visuellem Wiedererkennungswert sehr hilfreich. Das Ziel ist: Wenn man einmal ein Gebäude mit diesem Buch durchdekliniert hat, dann weiß man das für immer, dann erkennt man das nächste Gebäude aus dieser Zeit auch ohne Buch.

STANDARD: Das Buch erinnert sehr stark an ein Bestimmungsbuch, wie man das von Schwammerln und Schmetterlingen kennt. Warum eigentlich?

Fröbe: Weil man mit dem hochgehobenen, pädagogischen Zeigefinger nichts erreicht. Indem das Buch wie eine klassische Bestimmungsfibel aufgebaut ist, erschließt sich die Materie auch einem Fachfremden. Meine Blüten, Pilzformen und Schmetterlingsflügel sind halt die Fenster.

STANDARD: An wen richtet sich das Buch?

Fröbe: An Laien, die sich zuvor noch nie ernsthaft mit Architektur beschäftigt haben.

STANDARD: Und warum sollten sie das jetzt tun?

Fröbe: Weil sie es zu Weihnachten geschenkt bekommen. Ich wünsche mir, dass das Buch in ganz viele Laienhände gerät.

STANDARD: Was ist der Sinn und Zweck der Lektüre?

Fröbe: Architektur führt ein Schattendasein in unserem Bewusstsein. Sie ist das Letzte, was wir im Stadtraum beachten, weil sie immer in Konkurrenz zu den unendlich vielen bewegten, leuchtenden, riechenden, klingenden und haptischen Reizen der Stadt steht. Daher nehmen wir die Architektur meistens nur aus dem Augenwinkel wahr. Aufmerksam werden wir eigentlich nur, wenn Architektur richtig expressiv ist, zum Beispiel bei besonders auffälligen Bausünden, was uns wiederum darin bestätigt, dass das alles einfach nur eine grässliche Grütze ist. Diesen Kreislauf möchte ich unterbrechen, möchte zeigen, dass sich Architektur allein durch das Hinsehen verändert. Deshalb diese kleine Sehschule: Je mehr man weiß, umso mehr sieht man, und je mehr man sieht, umso schöner wird die Umgebung.

STANDARD: Sie veranstalten auch Fassadenführungen durch die Stadt. Wie kann man sich so etwas vorstellen?

Fröbe: Genau so! Ich gehe mit den Leuten spazieren und lasse sie bestimmen, was wir uns ansehen. Dann denken wir laut nach und ordnen gemeinsam die Architektur ein. Es ist ein tolles Format – so habe ich auch die Buchpräsentationen zu Alles nur Fassade? gemacht. Die Leute waren regelrecht euphorisch, weil sie zum ersten Mal erlebt haben, wie interessant es ist, sich in eine Fassade zu vertiefen, und was man dabei alles ablesen kann.

STANDARD: Wann werden Sie Ihre Arbeit als Erfolg bezeichnen?

Fröbe: Wenn die Baukultur im Herzen der Gesellschaft angekommen ist. Dann werde ich arbeitslos sein.

STANDARD: Werden wir das noch erleben?

Fröbe: Das kann schneller gehen, als man denkt! In Finnland ist es innerhalb von 20 Jahren gelungen, Architektur zu einem Herzensanliegen der Gesellschaft zu machen, indem man die Materie in den schulischen Lehrplan aufgenommen hat, indem man gezielt Erwachsenenbildung zu Stadt und Architektur angeboten hat und indem man sogar das Recht auf eine ansprechend gestaltete Lebensumgebung in die Verfassung aufgenommen hat. In Mitteleuropa sind wir davon noch meilenweit entfernt. Aber es geht. Mit dem Buch vielleicht ein bisschen schneller. (Wojciech Czaja, 8.12.2018)