Der gelernte Psychiater António Lobo Antunes (76) schreibt seit 1979 ("Elefantengedächtnis") mit Feuereifer an ein- und demselben Werk: dem Protokoll von Portugals kolonialer Schuld.

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Der heimliche, gar nicht stille Held in den Romanen des Portugiesen António Lobo Antunes ist der Wind. Unablässig behaucht er in salzigen Brisen die Uferlandschaft von Cascais, einem westlich von Lissabon gelegenen Küstenort. Hier hausen die Stolzen und Mächtigen in den Jahren der Salazar-Diktatur: stille, prinzipienfeste Oligarchen, die auf privaten Tenniscourts die Filzkugel übers Netz dreschen.

Zur Belohnung tupfen ihnen die Gemahlinnen ihrer Geschäftspartner den Schweiß von der Stirn. Dies alles erzählt auf äußerst eindringliche, aber auch höchst indirekte Weise Vom Wesen der Götter. So lautet der Titel von Antunes’ neuem, rund 700-seitigen Roman, einem zentralen Opus im ohnehin berstenden Werkkatalog des Meistererzählers. Die mondänen, über und über mit Schmuck behängten Frauen sind die Opfer einer durchwegs vom Kult des Machismo geprägten Gesellschaft. "Clowns" heißen die Damen im Jargon jener wispernden Stimmen, deren Geraune mächtig anschwillt. Fairerweise muss man dazusagen: Auch Portugals Frauen besitzen in Antunes’ zerklüfteten Romanen Sitz und Stimme.

Von Gleichberechtigung wird man dennoch nicht sprechen wollen. Die Frau des Protagonisten, des allmächtigen "Senhor Doutor", erduldet noch zu Lebzeiten das Schicksal ihrer eigenen Gespensterwerdung. Sie sitzt, aus dem Alltag verbannt, hinter dem Fenster ihres luxuriösen Zimmers. Von der Villa aus blickt sie stumm herunter auf Kiefernwälder und Brunnenfiguren. Sie lauscht ausdruckslos dem Kriegsgeschrei der Möwen und Albatrosse, die vom Wind angestachelt werden und einander spinnefeind sind.

Ihrem Gemahl ist sie so spinnefeind, wie es einander nur Eheleute sein können. Die Impotenz von "Senhor Doutor" hat im unseligen Haus des Industriellen zu einem eher rätselhaften Kindersegen geführt. Der weiß livrierte Kammerdiener besitzt ein Zugangsprivileg zur hohen Dame. Umgekehrt erfreut sich der Hausherr der Existenz einer bildhübschen Tochter. Sie scannt er, um des Seelenfriedens Willen, nach Merkmalen der eigenen Physiognomie ab. Antunes’ portugiesisches Haus der Lüge ist nicht aus Steinen und Mörtel errichtet. Gebildet wird es aus dem Niederschlag unzähliger, mehr oder minder klar artikulierter Stimmen. Wie in den weit über 20 Romanen zuvor ist es die Bewegung des Föhnsturms, der die Figuren in die Landschaften ihrer Kindheit zurückbläst.

Sozial gestuftes Elend

Antunes-Prosa ist auch immer großes Armeleutekino. Man sieht Matronen vor den zerbeulten Töpfen am Herd. Geschlagen sind sie mit erwerbsuntüchtigen Männern, die sich – als kleine, schäbige Feierabendkavaliere – in die Umarmungen mit verwitweten Tandlerinnen flüchten. Krebs und Zellverfall sind die hartnäckigen Heimsuchungen eines sozial äußerst fein abgestuften Elends. Und auch die Reichen bleiben vor den Zumutungen der Zeitlichkeit in keiner Weise gefeit.

Nie hat António Lobo Antunes das Durcheinanderwispern seiner Figuren virtuoser komponiert als in Vom Wesen der Götter. Wie lauter kleine Marcel-Proust-Madeleines fungiert eine Reihe von Motivwörtern und bildet einen Satz Schlüssel an einem Bund. Jeder von ihnen verschafft Zugang zu einem verschütteten Kindheitsland. Es handelt sich um "Duft rosen", um einen "Obdachlosen", der als Sendbote des Himmels unerkannt durch Cascais huscht.

Die Prosa dieses Meisters einer konsequent weiterentwickelten Moderne war niemals ernster und zugleich filigraner. Portugals Erbsünde ist nicht nur die Diktatur Salazars, das Fortbestehen des "Estado nuovo" bis zur Nelken revolution 1974. Errichtet sind die Spukschlösser der Mächtigen auf dem Untergrund brutaler Kolonialherrschaft. Das Unrecht von Terror und Ausbeutung enthält den Keim einer unsühnbaren Schuld. Und so gehört die eindrucksvollste Stimme im Konzert der Verdammten einer jungen Frau mit afrikanischen Wurzeln: Fatimà, die sich bei der inzwischen ergrauten Tochter des "Senhor Doutor" als regelmäßige Buchlieferantin einstellt.

Fatimà lauscht der letzten Überlebenden eines in Terror verstrickten Landes. Die Duftrosen knistern. Man ertrinkt förmlich im Schwall von Antunes’ Sätzen, die ohne Punkt, nur von Kommata gelenkt, auf einen einbrechen. Man lauscht einem zeitgenössischen Honoré de Balzac. (Ronald Pohl, 9.12.2018)