Baustelle Brexit: Der Deal von Premierministerin Theresa May zum Austritt der Briten aus der EU wird im Londoner Parlament an der Themse hitzig diskutiert.

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Verwirrung in Westminster: Nach wochenlanger Kampagne für ihren EU-Austrittsvertrag hat Premierministerin Theresa May in letzter Minute die für Dienstag geplante Abstimmung im Unterhaus vertagt. "Ich habe den Einwänden genau zugehört", teilte die Konservative am Montagnachmittag der vollbesetzten Kammer mit. Sie werde nun bei den EU-Regierungschefs sowie in Brüssel für weitere Zugeständnisse werben. Gleichzeitig gab sich May überzeugt, dass der vorliegende Vertrag die richtige Lösung für das Dilemma der inneririschen Grenze darstelle. "Diese Herausforderung bedarf keiner Rhetorik, sondern einer echten Lösung."

Im britischen Parlament hätte am 11. Dezember die Abstimmung über das "Brexit"-Abkommen mit der EU stattfinden sollen. Doch eine Niederlage für Premierministerin Theresa May war so absehbar, dass die Premierministerin die Abstimmung im letzten Moment verschoben hat. Jetzt will sie in Brüssel nochmal nachverhandeln.



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Der Widerstand in der konservativen Regierungspartei war zuletzt so gewachsen, dass May eine vernichtende Niederlage sicher war. Nun positionieren sich die Rivalen für die Nachfolge der schwerbeschädigten Premierministerin.

Bereits vergangene Woche hatte der Hinterbänkler Graham Brady die Verschiebung ins Spiel gebracht, doch noch am Montag stand das Signal auf Weiterfahrt: Um 8.20 Uhr warb Umweltminister Michael Gove im BBC-Radio für den Deal. Gefragt, ob die Abstimmung tatsächlich wie geplant am Dienstag stattfinde, antwortete der führende Brexit-Vorkämpfer: "Hundertprozentig." Zur Mittagszeit dann die unerwartete Nachricht: May spricht am späten Nachmittag im Unterhaus, ergo: Das Votum wird verschoben.

Aber für wie lange? Könnte das Unterhaus seine bis 7. Jänner geplanten Weihnachtsferien erheblich abkürzen? Von einem deutlich kürzeren Zeitraum sprach Justizstaatssekretär Rory Stewart: Man müsse "binnen weniger Tage" die renitenten Fraktionsmitglieder davon überzeugen, "dass dies ein guter Deal ist – und vor allem ist es der einzige".

Doch die EU-Partner erteilten allen Neuverhandlungswünschen sofort eine Absage. EU-Ratspräsident Tusk berief für Donnerstag einen Brexit-Gipfel ein, um unter anderem Vorbereitungen für ein No-Deal-Szenario zu besprechen. Es werde keine Nachverhandlungen geben, allerdings sei die EU bereit zu Gesprächen darüber, "wie die britische Ratifizierung erleichtert werden kann", erklärte Tusk.

Kompromissvorschlag

Der Eindruck, die EU sei den Briten schon sehr entgegengekommen, herrscht in London nicht vor – und zwar parteiübergreifend nicht. Der von May vereinbarte Deal stellt einen Kompromiss aus den Wünschen der Brexit-Mehrheit sowie den wirtschaftlich-politischen Notwendigkeiten dar: Großbritannien würde sich der Personenfreizügigkeit entziehen, die einer der Hauptbeweggründe für das Austrittsvotum war. Aber durch den Verbleib in der Zollunion und die Auffanglösung für Nordirland ("backstop") bliebe britischen Unternehmen die enge Verzahnung mit dem Kontinent erhalten – sowie Nordirland die "harte Grenze" zur Republik Irland erspart.

Insbesondere die Rücksichtnahme auf die delikate Situation in der früheren Bürgerkriegsregion löst bei vielen englischen Nationalisten Empörung aus – und bei Verfassungsexperten Bedenken. Denn der Backstop kann nur im beiderseitigen Einvernehmen zwischen Brüssel und London gekündigt werden. Vergeblich verwies May darauf, dass beide Seiten in der Übergangsphase bis Ende 2020 einen dauerhaften Handelsvertrag aushandeln wollten, der die Auffanglösung überflüssig machen würde.

In der bisherigen Parlamentsdebatte hatten sich bereits mehr als 100 Tories entweder kategorisch gegen den Vertrag ausgesprochen oder doch schwere Bedenken zu erkennen gegeben. Klar ist nur: Im Parlament hat die Premierministerin wenige Freunde. Weil die Niederlage unausweichlich schien, zog May also die Notbremse.

Harsche Kritik

Von der Opposition kam für May harsche Kritik. "Der Deal ist so verheerend, dass die Regierung ihre eigene Abstimmung absagt", höhnte Labour-Chef Jeremy Corbyn. "Wir haben gar keine funktionierende Regierung mehr."

So ähnlich sehen das auch viele Tory-Abgeordnete. Vergangenen Monat war der Versuch der Brexit-Ultras, eine fraktionsinterne Vertrauensabstimmung über May herbeizuführen, noch gescheitert. Die nötigen 48 Anträge kamen nicht zusammen. Durch die Ereignisse vom Montag dürften nun aber die Rufe nach einer Vertrauensabstimmung immer lauter werden, analysiert David Cheetham vom Währungshändler XTB. Mays Krise bedeute "Rückenwind für Boris Johnson", glaubt Andrew Gimson, Biograf des früheren Außenministers. Mögliche andere Bewerber: Innenminister Sajid Javid sowie die früheren Minister Esther McVey (Soziales) und Dominic Raab (Brexit).

Von Interesse in London ist nun auch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH): London kann den Austrittsantrag einseitig zurückziehen, es bedarf zur Wiedereinsetzung der EU-Mitgliedschaft keiner Zustimmung der 27 Partnerländer. Freilich gilt diese Variante auf der Insel als abwegig.

An Wahrscheinlichkeit gewonnen hat hingegen eine zweite Volksabstimmung, so sehen es jedenfalls manche Analysten der US-Investmentbank JP Morgan.

Johnson-Biograf Gimson kann der unübersichtlichen Situation aber auch Positives abgewinnen: "Auf jeden Fall hat der Brexit unsere parlamentarische Demokratie aufgefrischt. Dem Unterhaus wird wieder zugehört." (Sebastian Borger aus London, 10.12.2018)

Der STANDARD hat in der 'Remain'-Hochburg London Passanten nach ihrer Einstellung zum Brexit befragt.
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