FIAF-Präsident Frédéric Maire (57) im Archiv seiner Cinémathèque.

Foto: Cinémathèque suisse

Seit ihrer Gründung im Jahr 1938 ist die internationale Vereinigung der Filmarchive (FIAF) von vier auf 89 Mitglieder angewachsen. Das Ziel lautet bis heute, die Erhaltung des Filmerbes zu sichern und voranzutreiben. Die Digitalisierung stellt Filmarchive weltweit vor neue Herausforderungen, ermöglicht aber auch neue, offenere Zugänge auf die Filmgeschichte. Wir befänden uns in der Kindheit einer neuen Ära, sagt FIAF-Präsident und Cinémathèque-Suisse-Chef Frédéric Maire, der anlässlich der Retrospektive Forever Film – 80 Jahre internationale Filmarchive im Filmmuseum nach Wien gekommen ist.

STANDARD: Die Cinémathèque Suisse stellt gerade ein neues Filmarchiv fertig. Beim Bau gab es Verzögerungen, weil man ursprünglich keine Abteilung für digitale Bearbeitung eingeplant hatte. Ein Symbol dafür, dass man von der Entwicklung überrannt wurde?

Maire: In der Schweiz sind wir bekanntlich langsam. Die Planung ist schon durch meinen Vorgänger 2000 erfolgt. Da war die Digitalisierung im Kommen, aber eben noch nicht so massiv. Und als es dann an Geschwindigkeit zunahm, war das ganze Gebäude schon im Parlament abgesegnet. Als ich dann 2009 die Cinémathèque übernahm, war mir das Problem gleich bewusst.

STANDARD: Warum ist man bei der Digitalisierung so spät dran? In Deutschland wurde erst dieses Jahr eine Initiative zur Rettung des Filmerbes im Rahmen von 100 Millionen Euro lanciert.

Maire: Zwei Antworten: In der Schweiz ist das Bewusstsein für die Digitalisierung von Content für zukünftige Generationen durchaus groß. Die Digitalisierung war eine der Prioritäten dieser Regierung, allein, hat das aber nicht ausreichend budgetiert. Zweitens haben alle unterschätzt, wie schnell der Wechsel von analog zu digital im Kino erfolgt ist. Jetzt braucht es Druck.

STANDARD: Gibt es durch die FIAF Bestrebungen, die vielen nationalen Sonderwege zu bündeln?

Maire: Ja und nein. Auf der FIAF-Website findet man ein Statement zur Digitalisierung der technischen Abteilung. Man gibt Ratschläge, wobei man Digitalisierung und Restaurierung unterscheiden muss. Die FIAF kann freilich nur Empfehlungen geben. Bei der Aufbewahrung von digitalem Material gibt es auch keine internationalen Normen – nur unzählige Formate.

STANDARD: Eines der größten Probleme.

Maire: Ja, aber das ist normal, denn wir befinden uns am Beginn einer neuen Ära. Als der Tonfilm kam, hat es auch Jahre gedauert, bis sich ein System weltweit durchgesetzt hat. Es wird noch Jahre brauchen, bis es ein Format gibt, das in allen Ländern kompatibel ist. Die DCPs, die Digital Cinema Packages, die dieser Tage ins Kino gelangen, sind komprimiert. Würde man diese aufbewahren, behielte man nur eine schlechte Kopie. Um die originale DPX aufzubewahren, braucht man jedoch enorme Speicherleistung – und oft fehlt den Archiven dafür das Geld. Die Kluft, die es schon in der Erhaltung des analogen Films zwischen den Institutionen gab, wird dadurch noch größer. Deshalb ist die Lösung, bei der Erhaltung des Erbes auf Film als Material zurückzukehren, nicht die absurdeste Lösung. Weil dies Sicherheit bietet.

STANDARD: Worin sehen Sie die Aufgaben eines Archivs, wenn es um die Sichtbarkeit des Films geht – soll man analogen Film auch digital projizieren?

Maire: Ich bin da nicht dogmatisch. Aber als Archivare sollten wir daran erinnern, wie das Kino war, und wenn wir ein Original-Kopie in ihrem richtigen Format zeigen können, dann müssen wir das tun. Es muss unsere Mission sein, beide Arten, Filme zu zeigen, zu erhalten. Die Digitalisierung ermöglicht uns ja auch, alte Nitratfilme zu sehen, oder Filme, die in schlechtem Zustand sind. Nicht digitalisiert wären sie unsichtbar. Doch Filme sind dazu da, gezeigt und nicht nur erhalten zu werden.

STANDARD: Droht man nicht, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn man alles ins Digitale investiert? In Österreich wartet man noch auf die Realisierung eines analogen Labors, das Film Preservation Center.

Maire: Ich stimme dem völlig zu – allerdings ist analoger Film zu einer Nische geworden. Den Labors, die noch existieren und die es weiter geben muss, muss geholfen werden.

STANDARD: Wie groß ist der Nutzen der Digitalisierung, was den Zugang zu den Sammlungen betrifft?

Maire: Es ist eine unserer Aufgaben, allen Archiven zu vermitteln, was getan werden kann, damit man sich mehr öffnet. Das ist wahrscheinlich sogar das Wichtigste überhaupt: Die Digitale hat es erlaubt, den Kühlschrank zu öffnen. Früher musste man in die Kühlschränke der Archive schauen, um herauszufinden, was sie lagern. Durch die Digitalisierung kann man den Kühlschrank offen halten und von außen hineinschauen – das ist fantastisch. (Dominik Kamalzadeh, 11.12.2018)