Danach, also nachdem die Route von der Uhr auf die App übertragen worden war, sah das Ganze eh anständig aus. So als wäre das so geplant gewesen. Dass der Track eher improvisiert war, mussten wir also nicht an die große Glocke hängen. Schon gar nicht, weil danach, als wir wieder in der Mall waren, alle strahlten und sich bei Mischa für die schöne Runde bedankten: Ziemlich genau 20 Kilometer waren es geworden. In ziemlich genau zwei Stunden. Die angepeilte 5'50er-Pace (also 5 Minuten 50 pro Kilometer) hatten wir zwar nicht gehalten – aber solche Ansagen gelten ja nur für "flach und windstill". Aber wir hatten doch 250 Höhenmeter gemacht – und windstill war es vergangenen Sonntag ganz und gar nicht.

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Aber der Reihe nach: Für mich beginnt jetzt wieder die entspannte Sonntags-Gruppenlaufphase. Der Aufbau jener Grundkondition, die dann, im Frühjahr und Sommer, das Fundament bildet, auf das man alles draufstellt, was mit Ehrgeiz, Wettkämpfen, Herausforderung und dem Herantasten und Überschreiten eigener Grenzen zusammenhängt. So idiotisch der Spruch von den Bikinifiguren (oder weniger sexistisch: Strand- oder Sommerfiguren) ist, die im Winter geformt werden, so richtig ist er. Und er gilt zu 150 Prozent auch für Sport – ganz besonders für Ausdauersportarten.

Nur ist es bei grauem Griesgramgraupelwetter oft eher unleiwand, sich für einen längeren Lauf in den nasskalten Wind zu stellen. Noch dazu, um langsam – es geht ja um Grundlagenausdauer – zu traben: Gruppe hilft da.

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Laufgruppen gibt es etliche. Und es werden, gefühlt, immer mehr. Nicht alle, aber die meisten Treffs werden von Labels, Marken, Veranstaltern oder Shops organisiert oder unterstützt. Das erhöht die Reichweite des Treffs, sorgt für mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer – und schafft somit eine gewisse Nachhaltigkeit.

Dass Marken und Shops da nicht ausschließlich altruistisch agieren, ist nicht wirklich überraschend. Und auch nicht verwerflich: Nicht einmal bei den ganz klar als Markenlauftreffs etikettierten Gruppenläufen wird irgendjemand blöd angeredet, scheel angeschaut oder nicht mitgenommen, wenn er die "falschen" Marken trägt.

Abgesehen davon gibt es auch etliche sehr gut funktionierende, absolut "freie" Gruppen und Treffs – meist im Trail-Umfeld. Sich da einmal "durchzukosten" möchte ich jedem und jeder Läuferin jeder Leistungsklasse von ganzem Herzen empfehlen: Irgendwo macht es unter Garantie "Klick" – vermutlich ja nicht nur bei einer Gruppe.

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Meine Stammgruppe ist der WLR, der Weekly Long Run. Den "hostet" Michael Wernbachers We Move Runningstore – einer der vier Laufshops dieser Stadt, die diesen Namen meiner persönlichen Meinung nach ohne Einschränkung verdienen (die anderen? Laufsport Blutsch , Run Inc und Traildog Running.

Zum WLR kam ich über meinen Trainer und seinen/unseren Verein: Schon im Vorjahr war ich bei einigen Läufen einer der "Guides" einer mittellangsamen Gruppe. Ob befangen oder nicht: Die Teilnahme an den Läufen ist gratis. Sie dauern zwischen 90 Minuten und zwei Stunden. Man kann im Shop Jacken und Wechselkleidung bunkern. Danach gibt es etwas zu trinken und ein oder zwei Riegel. Und – ganz wichtig: Verkauft wird vor, während und nach dem Lauf nicht. Ach ja: Gelaufen wird am Sonntag, bei jedem Wetter – und Start (ungleich "Treffpunkt") ist um 8.30 Uhr.

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Ich war diesen Sonntag heuer, also in dieser Herbstsaison, zum ersten Mal dabei. Und lief einfach mit: Die flotte Partie (5'30"er-Pace) ist mir – ich habe mich diesen Herbst mit den Langstrecken-Wochenendtrips ziemlich abgeschossen und gehe es jetzt mal ruhiger an – ein bisserl zu emsig. Die nächstlangsamere (6'15") wäre mir vielleicht doch ein wenig zu gemütlich gewesen. Weil aber genug (um die 30) Läuferinnen und Läufer da waren, probierte Mischa eine "Zwischengruppe": 5'50". Das sollte passen. "Wo geht's denn diesmal hin?", fragte eine der Teilnehmerinnen, die fast jedes Mal dabei ist, neugierig. Einfach nur durch den Prater zu joggen spielt es nicht: "Here we are now, entertain us" lautet das Spiel.

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Ich hatte Mischa vorher gefragt, ob wir eventuell über den Handelskai rennen könnten. Nicht unbedingt zwingend genau dort, wo vorige Woche eine Läuferin von einem Zug erfasst und getötet worden ist, aber eben doch entlang der Bahnstrecke: Es gibt da nämlich etliche illegale oder zumindest inoffizielle Querungen – und die Frage, wo die Grenzen zwischen Freiheit, Eigenverantwortung, Sicherheit und Wahnsinn verlaufen, ist immer ein Thema.

Im konkreten Fall war die Läuferin mit Kopfhörern und bei – angeblich – schlechten Sichtverhältnissen über die Schienen gelaufen und vom Zug erfasst worden. Ich bin sicher, dass ich den Spot kenne. Ich habe dort auch selbst schon die Seite gewechselt.

Ich habe keine Ahnung, was genau passiert ist. Aber Kopfhörer sind bei derartigen Manövern halt ein No-Go – ganz besonders bei schlechter Sicht. Auch weil man sich dann noch leichter in seiner "Soundcloud"-verliert – und die Welt ringsum vergisst: Züge sind alles andere als leise und unsichtbar. Sie kommen auch nicht aus dem nichts, sondern fahren auf Schienen. Dennoch: Das ist furchtbar. Meine Gedanken sind bei den Angehörigen.

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Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin der Letzte, der behauptet, sich beim Laufen immer an die StVO und alle anderen Regeln zu halten. Ab und zu addiere ich im Kopf Strafen, die bei einem ganz normalen Lauf so zusammenkämen. Aber dieses Spiel funktioniert auch beim Autofahren oder auf dem Rad genauso: Der Griff zum Handy im Auto. Das Rechtsabbiegen bei Rot auf dem Rad … Die Liste ist lang.

Und auch wenn am Sonntagvormittag in Wien oft ganze Kreuzungskomplexe autofrei sind, gilt die StVO natürlich trotzdem: Prompt wurden wir – beim Schrägqueren einer so menschen- wie autoleeren mehrspurigen Kreuzung von der Besatzung einer Funkstreife aus der Ferne erspäht und "gestellt". Der abmahnende Polizist hatte selbstverständlich recht: "Sport ist zwar gesund – aber die Verkehrsregeln gelten trotzdem." Wir nickten brav und reuig – und ich hoffte inständig, dass jetzt keiner sagen würde, was wir uns alle dachten: Ich habe schon lange keinen so dicken Polizisten mehr gesehen. Aber der Satz, dass nicht nur wir uns seine Botschaft zu Herzen nehmen sollten, wäre wohl teuer geworden.

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Die Handelskai-Idee legten wir relativ rasch ad acta: Am Donaukanal pfiff uns ein rescher Wind um die Ohren. Das gab dem Himmel zwar mitunter dramatisch-malerische Facetten und Farben, ließ die Vorstellung, dann an der "echten" Donau voll im Wind zu stehen, nicht unbedingt sexy wirken: Auch wenn Rückenwind natürlich weniger elend als Gegenwind ist, ist es ab einer gewissen Stärke nicht wirklich lustig, dauernd Druck im Kreuz zu haben. "Routenänderung: Wir sammeln Wiens Weihnachtsmärkte ein. Irgendwer dagegen?"

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Aber der Wind hatte auch etwas Gutes: Vor uns, nur dem Anschein nach wirklich weit weg, lag der Kahlenberg. Und das Licht und die Stimmung dort am Horizont waren doch ansprechender als die Option auf einen City-Straßen-Slalom. Außerdem waren bei uns ein paar Leute in der Gruppe, die noch nie am Nussdorfer Spitz vorbeigelaufen waren: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und bleibt dann eben auf seinen "beaten tracks" – auch dieses Ausbrechen von den gewohnten Pfaden ist ein Grund, es einmal mit einer Gruppe zu probieren.

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Freilich: Wer auf einen Hügel will, der muss bergauf laufen. Und für Läufer, die das nicht gewohnt oder nicht drauf eingestellt sind, ist dann auch die sanfte Kahlenbergvariante über den Beethovengang rasch steil und anstrengend. Das ist vollkommen normal – auch wenn man mit der Pace da natürlich runtergeht und sich an denen orientiert, die man als Erste schnaufen hört: Dass wir es nicht ganz rauf (und in der Zeit wieder runter und zurück) schaffen würden, war rasch klar. Auch die verkürzte Route lediglich bis zum Eiserne-Hand-Weg würde eng werden – und mit der U-Bahn zurückfahren wollten wir alle nicht.

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Also bogen wir von der Wildgrubgasse früher ab: auf den Mukenthalerweg zurück Richtung Grinzing und Heiligenstadt. Ich bin diese Kurzversion noch nie bewusst gelaufen, weiß aber, dass man sich auch hier nicht wirklich verirren kann: Irgendwann landet man unter Garantie bei einer Straßenbahn in Richtung Zentrum oder am Donaukanal, bei der U4.

Was ich aber nicht wusste: welche Hammerblicke man auch hier schon über die Stadt sammeln kann.

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Mischa, der Mann im roten Shirt, war jetzt in seiner Hood: Er hat lange als Streetworker gearbeitet – auch hier. Dass der 19. Bezirk beileibe nicht nur aus Villen und "Bessere Leute"-Vierteln besteht, weiß er ganz genau. Darum zeigte er uns nicht nur ein paar spannende und nicht ganz so bekannte Ecken des Bezirkes: den Anton-Proksch-Hof mit seinen Stiegen ("der letzte Anstieg, versprochen!") genauso wie die ZAMG, die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik und das ihm allem Anschein nach heilige Stadion auf der Hohen Warte.

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Dann ging es quer durch den Karl-Marx-Hof, begleitet von schönen und auch kundigen Geschichten und Geschichterln über das, was der "Bau" früher war und wofür er auch heute noch steht – wenn man Geschichte nicht als inhalts- und botschaftslose Abfolge von Herrschernamen und Kriegen versteht.

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Genau das ist mit einer der schönen Aspekte solcher Gruppenläufe: Natürlich kann man da einfach dahintraben. Und außer dem sportlich-gesundheitlichen Benefit des Laufens in einer gemäßigten Pace, über die man sich selbst (hoffentlich) nie Gedanken machen muss, nur die frische Luft mit nach Hause nehmen. Und daheim, auf die Frage, mit wem man denn heute unterwegs war, nichts anderes sagen zu können als "Irgendwelche Läufer halt".

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Aber meistens ist oder wird man unterwegs dann halt doch neugierig. Nicht nur auf das, was sich auf und neben der Strecke befindet, sondern auch auf die Menschen, die mit einem unterwegs sind. Auf ihre Geschichten. Auf ihren Blick auf die Welt: Oft genug sind es Leute, die man noch nie zuvor gesehen hat. Menschen, mit deren Leben, Welten und Werten man auf den ersten Blick nur exakt einen einzigen Überschneidungspunkt hat: das Laufen nämlich.

Aber dabei bleibt es nicht. Und genau das macht das Laufen in Gruppen spannend: Um den eigenen Horizont zu erweitern, um die Welt auch aus der Perspektive anderer Menschen zu sehen, braucht man ein solides, ein verlässliches Fundament. Nicht nur konditionell. Und nicht nur an dem kann man bei einem Longjog ganz hervorragend arbeiten. (Thomas Rottenberg, 12.12.2018)

Anmerkung: Der Weekly Long Run startet jeden Sonntag um 8.30 Uhr pünktlich beim We-Move-Runningstore in der Mall in Wien-Landstraße. Gelaufen wird in mehreren geführten Tempogruppen. Die Teilnahme ist kostenlos. Jeder und jede läuft auf eigene Verantwortung und eigenes Risiko. Gepäck und Wechselkleidung können im Shop deponiert werden.

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