Setzt sich in seinem jüngsten Werk auch mit Erosion einer öffentlichen Institution auseinander: Wissenschaftstheoretiker Caspar Hirschi.

Foto: Matthes & Seitz

Caspar Hirschi: "Skandalexperten – Expertenskandale", € 28,80 / 398 Seiten, Matthes & Seitz: Berlin 2018.

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Die Zeiten, als man den sachlichen Rat von Experten über alle Parteigrenzen hinweg schätzte, sind vorüber. Politiker wie Donald Trump oder die "Brexiteers" in Großbritannien leiteten mit ihrer Polemik gegen Sachverständige Wasser auf die populistischen Mühlen.

Das Misstrauen gegen den – oft akademisch bestallten – Experten scheint heutzutage allgegenwärtig. Dabei kann die moderne Gesellschaft den Sachverstand ihrer einschlägig bewanderten Köpfe schlicht nicht entbehren. Wer das Know-how von Experten leugnet, der müsste genauso gut dem vernünftigen Gebrauch von Geld, Verkehr oder Steuern abschwören. Dieser Einsicht vermögen sich auch gestandene Populisten letztlich nicht zu verschließen. Dabei greift ihre Polemik zu kurz. Gesucht wären Experten, die sich mehr um das große Ganze bemühen als bloß um ihr Sachfeld.

Die Gier nach Expertise

Von der Erosion einer öffentlichen Institution handelt auch das neue, verblüffend gedankenreiche Werk des Schweizer Wissenschaftstheoretikers Caspar Hirschi: Skandalexperten – Expertenskandale (Matthes & Seitz). Wobei noch niemand absehen kann, was ohne das verbriefte Wissen von Fachleuten aus uns werden soll. Als Trump nach der US-Wahl die versprochene Steuerreform in Angriff nahm, beanspruchte er selbstverständlich die Unterstützung durch Experten.

Noch vor einem Vierteljahrhundert schien die Rolle des Experten als eines Sympathieträgers festgelegt. Der Eiserne Vorhang war soeben gefallen. An die Stelle der ohnehin überlebten Industriegesellschaft trat die "Wissensgesellschaft". Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts schien, paradox genug, die Zeit reif für eine finale Entpolitisierung von Politik.

Die "knowledgeable society" sollte sich von "objektiven Standards einer verifizierbaren Wahrheit" leiten lassen. Die wissenschaftlichen Regeln des Beweisens und Schlussfolgerns galten als unumstößlich. Sie kennzeichneten die Verpflichtung, sich an verantwortlicher Stelle um das Gemeinwohl zu sorgen. Es schien, als ob man der Politik den polarisierenden Parteigeist mit der sanften Gewalt des Sachzwangs austreiben könne. Klassenhass und Zwietracht? Galten als überlebte Formen einer unnötig konfliktgeladenen Ausgangssituation.

Opfer der Polarisierung

Nach Ausbreitung der Druckwellen, die der Einsturz des World Trade Center 2001 auslöste, war es um das Prestige der Experten schon wieder geschehen. Mit Anbruch des Internetzeitalters ist leider keine von Experten angeleitete Konsensdemokratie entstanden. Anstatt pragmatisch zu handeln, sehen sich Regierungen in aller Welt heute mit den Folgen einer rücksichtslosen Polarisierung konfrontiert.

Das Internet erleichtert die Verbreitung von Propagandalügen. Wissenschaftliche Experten werden als Komplizen und Speichellecker von tendenziell "korrupten" Eliten wutschnaubend ins Visier genommen. The Death of Expertise, wie der US-Politikwissenschafter Tom Nichols 2017 die betrübliche Hatz auf geprüftes Wissen nannte, zeitigt längst bedenkliche Folgen. Staatliche Behörden gehen um des lieben Friedens willen sukzessive dazu über, Spuren von Entscheidungen, die "science-based" getroffen werden, aus ihren Verlautbarungen zu entfernen. Eine "umgekehrte Evolution" (Nichols) führt Stück für Stück zur demokratisch verbrämten Herrschaft der Ungebildeten. Verächter geprüften Wissens delektieren sich lieber an der elektronischen Verbreitung von Volksweisheiten und Mythen.

Legitimation durch Wissen

Aber auch Skeptiker wie der Buchautor Hirschi malen nicht nur schwarz. In der Kritik stehen regierungsnahe Expertengremien, die ihrerseits auf die Zuarbeit von (anonym bleibenden) Spezialisten angewiesen sind. Experten verschaffen ihren Auftraggebern – als Zulieferer von Wissen – die Legitimation für politisch weitreichende Entscheidungen.

Häufig genug sonnen sich die Kompetenzinhaber im Licht der Öffentlichkeit. Gerne schimpfen sie auch über die Kandare, an die sie sich von der Politik nehmen lassen. Das Verhältnis von Wissen und Macht bleibt stets ein heikler Balanceakt. Gefordert wäre eine Kritik der Machthaber, die von der ängstlichen Rücksicht auf eigene Pfründen absieht.

Ein Blick in die Geschichte zeigt laut Hirschi, dass auch Experten von größter Prominenz sich die schnöden Fakten bei Bedarf nach eigenem Gusto zurechtklopfen. Als Voltaire sich in den 1760er-Jahren aus Anlass des mysteriösen Mordfalls Calas zu Wort meldete, nahm er "Fakten" zur Hand, die er bloß vom Hörensagen kannte.

Ombudsmann für die Menschheit

Die höchst betrübliche Geschichte eines Hugenotten, der angeblich vom eigenen Vater aus blindem Glaubenseifer erdrosselt worden war, wurde von Voltaire redaktionell komplett neu aufgesetzt und zum Teil faktenwidrig ausgeschlachtet. Heraus kam ein wirksames Pamphlet: gegen die Unausrottbarkeit des religiösen Wahns, dem Vater Calas – in Toulouse als vermeintlicher Sohnesmörder aufs Rad geflochten – zum Opfer gefallen war.

Aber welcher Sachverständige darf sich heute, so wie einst Voltaire, auch einen Experten für die allgemeine Fortentwicklung des Menschengeschlechts nennen? Die Stelle eines Ombudsmannes für die ganze Menschheit ist vakant. Sie wird von Beisitzern eingenommen, die auf die ordentliche Befüllung ihrer Projektfördertöpfe hoffen. (Ronald Pohl, 12.12.2018)