"Große Kinder – große Probleme", sagt man. Dafür könnten Eltern mehr Zeit gebrauchen.

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"Alles wird besser", hören frischgebackene Eltern zum Trost, wenn die Entwicklungsphasen ihrer Kleinkinder sie fast zur Verzweiflung bringen. Später merken sie: Es ist mit den ersten Lebensmonaten und -jahren bei weitem nicht getan. Spätestens im Schul- und Teenageralter tauchen neue Probleme auf: Schuleschwänzen, Wegbleiben über Nacht, Bulimie, Sexting oder Ritzen sind die Themen, die oft eine ganze Familie in eine Krise stürzen oder zumindest vor grobe Herausforderung stellen. Berufstätige bräuchten in diesen Phasen mehr Zeit für die Erziehung.

Das jetzige Angebot für Karenz reicht nicht, sagten Vertreter unterschiedlicher Familien-, Eltern-, Kinder- und Jugendinstitutionen kürzlich auf einer vom Österreichischen Familienbund organisierten Veranstaltung zum Thema. Sie arbeiten an einem Vorschlag an die Politik für ein neues Karenzmodell. Einer der Hauptunterschiede zur Elternkarenz: Mehrere Familienmitglieder auch außerhalb eines Haushalts sollen parallel Anspruch darauf haben, damit sie nicht – wie bisher – meist an den Frauen hängenbleibt.

Flexible spätere Karenzzeit

"Erziehung hört mit dem Eintritt in den Kindergarten nicht auf", so Bernhard Baier vom Österreichischen Familienbund, der die erwähnten Krisensituationen aus der Praxis kennt. Ein Beispiel: Eine junge alleinerziehende Mutter hat zwei Kinder. Alles ist halbwegs gut organisiert, weil die Großmutter die Kinder betreut. Plötzlich stirbt sie, und das gesamte System bricht zusammen. Dazu kommt große Trauer, helfende Netzwerke sind oft nicht vorhanden. "Das ist eine klassische Situation, in der Stabilisierung wichtig wäre und die Karenz eine neue Option", so Doris Pettighofer von der Plattform für Alleinerziehende.

Vorbild Familienhospizkarenz

Familienforscher Wolfgang Mazal weist darauf hin, dass man das Rad nicht neu erfinden müsse: "Angelehnt an das bestehende Vorbild Familienhospizkarenz könnte man eine Art Krisen- oder Familienkarenz andenken." Für das neue Karenzmodell sollte der Arbeitgeber nicht aufkommen müssen, Arbeitnehmer könnte man aber mit entsprechendem rechtlichem Rüstzeug in Eigenverantwortung entscheiden lassen, wie sie ihre Arbeitszeit verlagern und/oder reduzieren wollen. Das sei auch verkraftbar für Unternehmen, so Mazal.

Ganz aus dem Job hinauszugehen ist in diesen Situationen meist nicht das Modell der Wahl, denn oft ist die Arbeit die einzige noch funktionierende Konstante im Leben. Andererseits hat ein Arbeitgeber wenig davon, wenn ein Elternteil im Job nur an die ritzende Teenagertochter denkt, weil diese allein zu Hause ist. Hier könnte eine Verlagerung der Arbeitszeit schon dazu beitragen, dass sich Eltern selbst helfen können, indem sie mehr Zeit haben.

Autonomie und Selbsthilfe als Prävention

Wie wichtig die Hilfe zur Selbsthilfe ist, betont die Kinder- und Jugendhilfeexpertin Susanne Stokreiter-Strau von der Bezirkshauptmannschaft Baden: "Unsere Sozialarbeit ist immer auch ein Eingriff in Persönlichkeitsrechte, findet in einem Zwangskontext statt. Eltern wissen: Wenn sie etwas nicht unterschreiben, gibt es tiefergreifende Möglichkeiten zu intervenieren." Bevor man Eltern damit konfrontiert, dass ihnen die Kinder weggenommen oder sie stationär behandelt werden, wäre eine neue Karenzform, kombiniert mit einem beratenden oder therapeutischen Angebot und mehr Zeit für alle Beteiligten, eine Möglichkeit der Prävention von ernsteren Maßnahmen.

"Krisen können früher abgefangen werden, wenn Eltern Raum zur Selbstreflexion haben", meint auch Alleinerziehervertreterin Pettighofer. Aus der Politik gibt es positive Stimmen, ÖVP-Familiensprecher Norbert Sieber sieht eine Art Familienkarenz als richtigen Weg: "Wir haben eine steigende Anzahl von Kindern, die Eltern abgenommen werden, das ist letztlich auch eine Geldfrage."

Beurteilung von Krisen

"Der schwierigste Part wird aber sein zu bewerten, was bei wem gerade eine Krise ist", sagt Stokreiter-Strau, die weiß, wie unterschiedlich in Familien mit Stress umgegangen wird. Eine Krise ist immer subjektiv. "Man darf nicht vergessen, die Familien haben keine Monster zu Hause, sondern meist ganz normale Kinder mit einem Entwicklungsschub. Es zeugt auch von elterlicher Verantwortung, Hilfe und Zeit in Anspruch zu nehmen", so die Expertin.

"Die Frage ist, wer es bezahlen soll, inwieweit die Gesellschaft Geld dafür in die Hand nehmen soll. Aber auch, ob ich kündigen muss, nur weil ich eine dreimonatige Auszeit brauche oder meine Stunden anders aufteilen will", sagt Arbeits- und Sozialrechtler Mazal, der auch das Österreichische Institut für Familienforschung leitet. Er tritt bei der Planung einer künftigen Regelung für eine Entzerrung unterschiedlicher Ebenen ein: Das eine ist das Recht, die Arbeitstätigkeit anzupassen, das andere ist der Einsatz öffentlicher Gelder.

Und wer soll letztendlich beurteilen, ob sich Familien in einer Krise befinden? Mögliche Institutionen wären die Hausärzte, Psychotherapeuten, Familienberatungsstellen oder auch Schulen, heißt es von den Experten.

Schwierige Terminologie

Nicht ganz einig ist man sich bei der passenden Terminologie für die neue Auszeit: "Warum soll man es nicht Familienzeit nennen? Das wäre ein schönes Signal an die Eltern", sagt Familienforscher Mazal. "Eine Krise kann auch eine Chance für Familien sein", meint Alfred Trendl vom Katholischen Familienverband. Er und Irene Bamberger vom Familienbund Niederösterreich geben zu bedenken, ob der Begriff Krise nicht doch der richtige ist, auch wenn er negativ besetzt ist. Denn für deren Bewältigung sollte das neue Modell da sein.

Abseits des Frage des richtigen Wordings sind sich die Experten jedoch einig: Die Zeit ist reif für eine neue Karenz. Nun heißt es, die Arbeitgebervertreter und die Politik noch ins Boot zu holen. (Marietta Adenberger, 13.12.2018)