Dass da etwas Größeres nicht stimmt, nimmt man als Erstes über die Ohren wahr. Man sieht nichts, riecht nichts, aber es ist so merkwürdig still. Der Sound einer Stadt ist völlig verändert.

Dienstagabend, kurz vor zwanzig Uhr. Auf dem Platz der Republik in Straßburg macht der Fahrer der Straßenbahnlinie B eine Durchsage: "Es gibt ein Problem, wir müssen diesen Zug evakuieren und aus dem Verkehr ziehen. Merci." Bis zur Place Kléber, wo der reich geschmückte größte Christbaum Europas inmitten der Verkaufshütten steht, wären es nur noch zwei Stationen.

Die Fahrgäste steigen aus. Es klingt alles nach einem technischen Gebrechen. Vielleicht kann die Tram einfach auch nicht durch die Station nahe dem Kléberplatz fahren. Seit Tagen gibt es die Proteste der Gelbwesten, ganze Schulen demonstrieren spontan. Behinderungen waren dort schon in der Früh angekündigt. Dutzende Menschen warten also auf die nächste Bahn.

"Da drin schießt jemand"

Aber es kommt keine. Ich bin für acht Uhr in einem Gasthaus am Gutenbergplatz mit Kollegen zum Abendessen verabredet. Entscheide mich, dass ich zu Fuß gleich den direkten Weg durch eine Fußgängerzone hinter der Kathedrale nehme. Sind ja nur gute fünf Minuten. Nach dem Überqueren einer kleinen Brücke hält mich ein Mann in einer gelben Weste auf. "Passen Sie auf, da drin schießt jemand", sagt er. Ein makabrer Scherz einer Gelbweste, scheint es. Ein Kellner steht vor einem Lokal und raucht in Ruhe eine Zigarette.

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Foto: REUTERS/Vincent Kessler

An einem Dienstagabend kurz vor Weihnachten ist im Zentrum von Straßburg besonders viel los. Normalerweise. Es gibt dort nicht nur "den Weihnachtsmarkt", wie manche sagen. Praktisch die gesamte Innenstadt, eine große Insel im Fluss Ill mit einer der schönsten Kathedralen überhaupt in der Mitte, ist dann ein einziger Weihnachtsmarkt. Überall stehen Verkaufshütten. Geschäfte haben länger geöffnet. Um in das Labyrinth der kleinen Gassen und Fachwerkhäuser zu gelangen, muss man über eine der vielen Brücken gehen oder fahren.

Der Sound der Stadt ist völlig verändert

Wie schon im Mittelalter ist das Zentrum leicht abzusichern. Nach den Terroranschlägen in Paris 2015 und dem nach wie vor geltenden Ausnahmezustand gibt es an den Brücken zusätzlich Barrieren und Sicherheitskontrollen. Nichts Ungewöhnliches.

Seit Montag tagt das Plenum des Europäischen Parlaments im Nordosten der Stadt. Neben den Einwohnern und den vielen Touristen, die die landesweit berühmten Weihnachtsmärkte besuchen, kommen dann noch tausende Abgeordnete und ihre Mitarbeiter, Journalisten dazu, die ins Zentrum streben. Für den Abend war also damit zu rechnen, dass die Restaurants übervoll, die Straßen belebt sind. Normalerweise.

Aber an diesem Dienstag fühlt sich das in der Rue des Juifs plötzlich anders an. Je näher ich zur Kathedrale komme, desto spärlicher wird die Zahl der Fußgänger. Ein Souvenirhändler räumt seinen Stand von der Straße. Dass da etwas Größeres nicht stimmt, nimmt man als Erstes über die Ohren wahr. Man sieht nichts, riecht nichts, es ist merkwürdig still. Dennoch ist hinter der Kathedrale kein Polizeiauto zu sehen, nicht ein Polizist. Kurz vor der Place Gutenberg spricht mich eine Frau an: "Gehen Sie rasch raus aus der Stadt. Es läuft hier ein Attentäter herum", sagt sie. Ja, aber wo? In welche Richtung?

Man hilft sich

Sie suchen ihn überall, sagt sie. Auf einmal rasen ein Polizeiauto und ein Motorradpolizist an uns vorbei. Ohne Signalhorn, aber sehr schnell für Innenstadtverhältnisse. 50 Meter weiter ist die Arkadenstraße mit einem Plastikband abgesperrt. Ein Polizist schreit von weitem, dass wir verschwinden sollen, die Grand Rue runter, raus aus dem Zentrum Richtung Westen – "hinter dem Wasser", also auf der anderen Seite der Brücke sei man sicher.

Man geht langsam, sucht das Gespräch mit Passanten. Stimmt das wirklich, dass da jemand schießt? Wie schützt man sich? Eine junge Frau sagt, dass sie Schüsse gehört habe, aber sie wisse auch nicht genau, wo. Wir gehen also alle weiter, die Leute sind ruhig und gefasst.

Von hinten überholen mich zwei Soldaten in Kampfanzügen, Maschinengewehre im Anschlag. Sie laufen Richtung Südwesten. Erstaunlicherweise spürt man in einer solchen Situation keine Angst, konzentriert sich auf die Umgebung, schaut herum. Dieses Phänomen habe ich schon bei den Terroranschlägen von Brüssel im März 2016 erlebt. Menschen, die einander noch nie gesehen haben, halten plötzlich fest zusammen. Man hilft sich. Macht sich Mut.

Nun sind die Straßen fast leer, die Geschäfte und Restaurants geschlossen. Was wir zu dem Zeitpunkt nicht wissen, ist, dass es ein mutmaßlich islamistischer Attentäter war, der bei der schmalen Rue des Orfèvres, keine 100 Meter von der Kathedrale entfernt Richtung Place Kleber, begonnen hatte, auf Passanten zu schießen. Er muss dann weitergelaufen sein Richtung Westen. Beim großen Wehr in der Petite France tötete er einen Touristen aus Asien per Kopfschuss. Dann flüchtete er in einem Taxi, wie die Polizei später in der Nacht bekanntgeben wird.

"Ich bin ok"

Gemeinsam mit einem Paar gehe ich nun die Grand Rue bis zum Ende hinab. An der Brücke, wo sich die Elitehochschule ENA befindet, gibt es eine Polizeisperre. Eine Polizistin schreit von weitem: "Hierher!" Sie hat eine Trillerpfeife und einen Scheinwerfer. "Wo sollen wir hin? Unser Hotel ist in der Innenstadt", fragen wir einen Sicherheitsmann. "Gehen Sie in ein Restaurant Richtung Bahnhof, die gesamte Innenstadt wird hermetisch abgeriegelt. Niemand weiß, wie es weitergeht", sagt er.

Der Quai Saint-Jean an der äußeren Seite der Ill ist eine Stunde nach den ersten Schüssen voll mit Leuten, die aus dem Zentrum kamen und nun in sicherer Entfernung auf die Insel schauen. Alle paar Minuten rasen jetzt Polizeiautos, Busse von Spezialkräften, Ambulanzen vorbei. Ich hole jetzt erst mein Smartphone heraus. In Zeiten der Gefahr braucht man es nicht. Per SMS, auf Twitter und Whatsapp haben sich inzwischen Freunde und Kollegen gemeldet, wollen wissen, wo ich bin. "Ich bin ok" , tippe ich rein.

Nein, nichts ist okay. Aber das wird einem an einem langen Abend erst langsam so richtig bewusst, während rund um einen eine ganze Stadt in Terroralarm und Ausnahmezustand versinkt. Um drei viertel zwei in der Früh kommt die erste Entwarnung. Der Attentäter läuft noch frei herum. Aber die Polizei lässt uns nun wieder über die Brücke auf die Insel zurück in die Hotels gehen. Auf dem Weg dorthin mache ich noch einen kleinen Umweg zur Place Kleber, zu "dem Weihnachtsmarkt". Dort ist es still, fast friedlich. Nichts deutet darauf hin, was hier sechs Stunden zuvor drei Gassen weiter geschehen ist. (Thomas Mayer aus Straßburg, 12.12.2018)