Als im Jahr 1948 die UN-Menschenrechtscharta beschlossen wurde, war Homosexualität in vielen Staaten strafrechtlich verfolgt und gesellschaftlich geächtet. Wenige Jahre war es erst her, dass die Nationalsozialisten Homosexuelle in Konzentrationslagern ermordeten, doch wurden sie nicht als Opfer der NS-Verfolgung anerkannt. Die Vorstellung, dass die sexuelle Orientierung jedes Menschen einzigartig ist, wurde zwar schon vor der NS-Zeit in der Sexualwissenschaft diskutiert, ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über Homosexualität entwickelte sich aber erst ab den 1960er-Jahren, als die sexuelle Revolution sowohl Männer als Frauen von den Fesseln einer rigiden Sexualmoral befreite.

Wegweisendes Österreich

Im Menschenrechtsdiskurs wird die sexuellen Orientierung als Menschenrecht erst in den 1990er-Jahren international diskutiert. Bereits 1981 hatte als erstes Menschenrechtsorgan weltweit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Totalverbot gleichgeschlechtlicher Handlungen als unvereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention erkannt. Seit Anfang der 1970er-Jahre hatte sich zuerst in den Staaten der westlichen Welt eine selbstsichere LGBT-Bewegung etabliert, die für die Anerkennung von lesbischen, schwulen, bi- und trans*-Lebensweisen kämpfte und für die Anerkennung der sexuellen Orientierung als Menschenrecht lobbyierte. Dabei hätten sie sich am Wiener Rechtsanwalt Otto Ekstein orientieren können, der bereits im Jahr 1930 die sexuelle Selbstbestimmung zum Menschenrecht erklärte. Österreich war einmal wegweisend, wenn es um die Frage der Menschenrechte gibt.

Bereits in den 30er-Jahren kämpfte man in Österreich für die gleichgeschlechtliche Liebe.
Foto: AP/Esteban Felix

Der angesehene Wiener Rechtsanwalt, Kammeranwalt und zeitweilige Disziplinarrichter der Rechtsanwaltskammer Otto Ekstein reichte im Mai 1930 beim zuständigen Justizminister Franz Slama einen "Appell an den Strafrechtsausschuss des Nationalrates wegen Aufhebung des § 129 b" ein. Dieser Paragraf verfolgte seit seiner Einführung 1852 als "Unzucht wider die Natur" sexuelle Handlungen mit Personen desselben Geschlechts. Dem Schreiben beigelegt wurde eine mehrseitige Begründung und eine Liste mit den Unterschriften von 63 Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur, die diese Anliegen unterstützten. Zu dieser Liste etwas später.

"Verletzung der Menschenrechte"

In der beiliegenden Argumentation, die sich im Kern auf männliche Homosexualität bezieht, wird klar, dass es sich bei diesem Appel nicht um eine vom persönlichen Schicksal, von Leid und/oder emanzipatorischem Eifer getriebene Verteidigungsschrift, sondern um eine fundamentale Analyse der Strafverfolgung Homosexueller handelte. Die Argumentation erfolgte "vom Standpunkt der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit und der Vernunft" aus. Bei einem von den Verfassern des Appells angenommenen Prozentsatz von 2,5 würden in Österreich "80.000 homosexuelle Menschen männlichen Geschlechts" leben. Ihnen wäre "die homosexuelle Einstellung ebenso immanent, wie dem heterosexuellen [Mann, Anmerkung] die heterosexuelle." Diese Formulierung ist interessant, denn die Ekstein-Petition bezieht damit im von der Sexualwissenschaft heftig ausgetragenen Streit, ob Homosexualität angeboren oder erworben sei, keine Position. Nicht der Homosexuelle sei krank, wie eine ebenfalls weit verbreitete Meinung in der Sexualwissenschaft behauptete, sondern die Unterdrückung "oft hochwertige[r], zärtliche[r] Gefühle" führe zu "psychische[r] Kastration, Verdorrung des Seelenlebens, Neurose und Psychose."

Weil "die staatliche Gemeinschaft ihn zum Verbrecher stempelt", wird "der oft wertvolle homosexuelle Mensch dissocial", er werde durch die Strafverfolgung erst dazu gemacht. Daher ist das Argument der "Reinhaltung des Volkslebens" nicht mehr als "eine konventionelle, nicht durchdachte, volltönende, aber inhaltslose Phrase". Es sei eine "unhaltbare Anmassung […] das Liebesleben eines sittlich minderwertigen Heterosexuellen für höherstehend zu erachten als die Liebesbeziehungen wertvoller Homosexueller." Denn: "Die Sonne scheint bei Hetero- wie Homosexuellen auf Wertvolle und Wertlose, Anständige und Unanständige, sittlich Hochgestimmte und Nichtswürdige."

In einer Kurzfassung des Appells, der der Unterschriftenliste beiliegt, heißt es schließlich: "Der Strafparagraph stellt eine äusserste Verletzung der Menschenrechte dar, weil er den Homosexuellen verwehrt, über ihre Sexualität zu verfügen, trotzdem keinerlei Rechtsgut verletzt wird." Die Verfolgung Homosexueller wird dabei unter anderem mit der Sklaverei in den amerikanischen Südstaaten verglichen. Damit verankert die Ekstein-Petition die sexuelle Selbstbestimmung Homosexueller und verallgemeinert alle Menschen im allgemeinen Menschenrechtsdiskurs, auch indem er ihn mit der Verfolgung aus rassistischen Gründen auf eine Stufe stellt.

Viele prominente Unterstützer

Doch wer hat sie verfasst? Es zeichnet keine Organisation dafür verantwortlich und dass Otto Ekstein in seiner Kanzlei die umfangreiche Arbeit, die nicht nur juristischer Expertise bedurfte, und das organisatorisch aufwändige Sammeln der prominenten Unterschriften leisten konnte, erscheint wenig wahrscheinlich. Womit wir bei der Unterschriftenliste wären. Nicht nur Künstlerund Persönlichkeiten des intellektuellen Lebens der Stadt wie Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und Franz Werfel, die Kammersängerin Rosa Papier-Baumgartner und ihr Kollege Leo Slezak, Sigmund Freud oder der später ermordete Philosoph Moritz Schlick haben unterschrieben.

Der Wiener Historiker Christopher Treiblmayr hat in seinen Forschungen nachgewiesen, dass die 1926 gegründete Österreichische Liga für Menschenrechte maßgeblich an der Ekstein-Petition beteiligt war, obwohl der Einsatz gegen die strafrechtliche Verfolgung von Homosexualität weder zu den proklamierten Zielen der Liga gehörte, noch in den Statuten stand. Etwa ein Drittel der Unterzeichner standen mit der Liga in Verbindung, allen voran ihr Präsident Adolf Vetter, die Frauenrechtlerin Rosa Mayreder, der Kunsthistoriker Hans Tietze oder der Schriftsteller Ernst Lothar. Es gelang den Unterstützer*innen der Petition auch, ihren Appell in die Öffentlichkeit zu bringen. So brachten beispielsweise die "Neue Freie Presse" und die "Arbeiter-Zeitung" ausführliche Berichte, die "AZ" sogar inklusive der Liste der Unterzeichner. Eine weiterführende Diskussion über die Petition hat es aber nicht gegeben, der Rechtsruck in Politik und Gesellschaft verhinderte dies. So erscheint die Ekstein-Petition wie ein letztes Aufflackern der vom Geist der Menschenrechte getragenen Humanität vor dem Sieg der Barbarei. (Andreas Brunner, 18.12.2018)

Alle Zitate aus der im Österreichischen Staatsarchiv verwahrten Ekstein-Petition. Hervorhebungen im Original.

Die Österreichische Liga für Menschenrechte ist auch heute noch aktiv. Ihr Archiv ist seit 2018 als Dauerleihgabe im Zentrum QWIEN und wird gerade für eine zukünftige Benutzung aufgearbeitet.

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