Wortwörtlich über Nacht wurde der russische Film- und Theaterregisseur Kirill Serebrennikow im August 2017 verhaftet und von der Justiz in Moskau unter Hausarrest gestellt. Dem Leiter des Gogol-Zentrums, einem renommierten Theater der Hauptstadt, wird in einem umstrittenen Verfahren vorgeworfen, Fördermittel in der Höhe von umgerechnet rund zwei Millionen Euro veruntreut zu haben. Der Regisseur hat wiederholt seine Unschuld beteuert. Auch international wird vermutet, dass hinter dem Prozess politische Motive stehen. Serebrennikow hat aus seiner kritischen Haltung gegenüber Putins Autokratie nie einen Hehl gemacht.

Rebellisch: Roman Bylik und Irina Starshenbaum in "Leto".
Foto: filmladen

Sein Film Leto (Sommer) war zum Zeitpunkt der Verhaftung gerade im Entstehen. Roman Bylik, der die Hauptrolle des Musikers Mike Naumenko innehat und unter dem Namen Roma Zver‘ in Russland selbst ein Rockstar ist, erinnert sich an den Schock, als das Team davon am Morgen danach erfahren hat: "Wir standen ohne Regisseur da und hatten keine Mittel, mit ihm zu kommunizieren. Nur der Anwalt übermittelte uns alle drei Tage ein paar Informationen. Er richtete uns aus, wie toll es Kirill fand, dass wir in St. Petersburg geblieben sind und den Film fertig drehen wollten." Möglich sei dies nur gewesen, weil Serebrennikow schon davor viel geprobt und ein familiäres Umfeld geschaffen hatte.

Gegen die Starrheit

Da der Film unabhängig produziert wurde, hatte der Fall auch keine direkten Auswirkungen auf dessen weitere Realisierung. Politisch ist die in gleitenden Schwarzweiß-Aufnahmen umgesetzte Rückschau auf eine Musiker-Bohème im Leningrad der 1980er-Jahre im mittelbaren Sinn allerdings auch. Serebrennikow, dem man in Kino ansonsten durch Filme wie Der die Zeichen liest kennt, ein nüchternes Drama gegen christlichen Fundamentalismus, blickt mit wehmütiger Empathie auf eine Szene zurück, in der die Liebe zu westlicher Popmusik offen ausagiert wurde.

Mit einer verhalteneren Interpretation von Rock trotzte der Zirkel um Mike der Starrheit der Breschnew-Ära ein Stück hedonistische Lebensfreude ab. Verehrt wurden Marc Bolan von T. Rex genauso wie David Bowie und Lou Reed, aber auf der Bühne spielt man mit angezogener Handbremse. Denn im einzigen Veranstaltungsort hören die Aufpasser mit. Steigt das Adrenalin im Publikum zu hoch oder werden unzüchtige Banner geschwenkt, schreitet der Staat ein.

Trailer zu "Leto".
Moviepilot Trailer

"Serebrennikow wollte einen Film über wahre Freundschaft drehen", sagt Bylik über die Dosis Nostalgie, die Leto umweht. "Und ein wenig romantisch über die letzten Jahre des Kommunismus erzählen, in denen dieses Dasein noch möglich war. Die Ära gab es wirklich. Die Musiker wollten nur singen, auch darüber, was sie sich insgeheim dachten. Sie haben ihren Teil zur Veränderung des Systems beigetragen. Als die Perestrojka kam und damit der Wandel, wurde aus dieser Subkultur ein Geschäftsmodell – die Verbindungen der Leute untereinander zerbrachen, Freundschaft und Liebe wurde durch Geld ausgetauscht."

Dass er diese Ode an eine verlorene Zeit nicht sentimental, sondern nuanciert und mit Witz zu inszenieren weiß, zeichnet Serebrennikow aus. Das Verhältnis von Mike zum talentierten New Waver Viktor Zoi (Teo Yoo) wird etwa nicht durch Konkurrenz bestimmt. Vielmehr übernimmt der Ältere eine Mentorenfunktion und ermöglicht Zoi eine Studioaufnahme. Und es erinnert an François Truffauts Jules et Jim, wenn Mikes Frau Natasha (Irina Starshenbaum) die Muse zwischen beiden verkörpert. Zoi wird kurz zum Star avancieren und noch zu Sowjetzeiten als "letzter Held des Rocks" tituliert werden.

Dass die Rebellion trotzdem kaum aus dem Wohnzimmer hinauskam, unterstreicht Serebrennikow mit musikalischen Einschüben, die wie Videos aus jener Zeit teilanimiert sind. Psycho Killer von den Talking Heads oder Iggy Pops unverwüstlicher The Passenger werden dabei von zufälligen Passanten (falsch) gesungen, mit starkem, aber äußerst charmantem russischen Akzent. Der Geist des Aufbruchs, wollen diese utopischen Szenen sagen, ist in der drögen Wirklichkeit schon spürbar – aber mehr als Wunsch oder als dünne Folie.

"Es gab damals keinen Markt, auch keine Platten zum Kaufen – man kannte die Musik nur dadurch, dass sie Freunde auf ihren eigenen Gitarren nachspielten", erzählt Bylik. Im Film gibt es für diese Form des sowjetischen Fantums viel schönes Anschauungsmaterial. Die Lieder aus dem Westen werden nachgesungen, die Poster abgezeichnet, die Songtexte übersetzt. Leto wird so zum Film über die Euphorie einer kulturellen Aneignung und einer flüchtigen Selbstbestimmung. (Dominik Kamalzadeh, 13.12.2018)