Illustration: Armin Karner

Am ersten Adventsonntag des vergangenen Jahres wurde es uns mit einem Schlag – oder vielmehr beim Anzünden des Kerzerls im Fenster des Esszimmers – klar: Wir haben einen fatalen Fehler gemacht. Zu unserer Verteidigung muss man aber sagen, dass wir die Tragweite unserer Entscheidung gar nicht abschätzen konnten, als wir ein gutes halbes Jahr zuvor zum ersten Mal gemerkt hatten, was am Nachbargrundstück vor sich geht.

Armin Karner war so nett, sich vorzustellen, wie Rudolph, das Weißpopsch-Rehtier, aussehen könnte.
Illustration: Armin Karner

Dort, zur Straße hin, befindet sich ein Supermarkt, der schon lange aufgelassen und zu einem Lager für Regale und alte Kühltruhen umfunktioniert wurde. Auf dem großen Parkplatz daneben stehen hunderte ausrangierte, aber auch nagelneue Einkaufswagerln zu schier endlosen Schlangen zusammengekettet. Daneben alte Aufsteller und wieder Regale. Fast jeden Tag kommen Mitarbeiter der Supermarktkette und bringen oder holen Gerümpel. Hinter der letzten endlosen Schlange von Einkaufswagen ist das Grundstück verwildert. Man hatte den Teil damals gleich miterworben, um eines Tages ganz leicht erweitern zu können – entweder den Supermarkt oder den Parkplatz. Aus dem Plan wurde nichts. Dafür befindet sich nun eben mitten im Ort ein etwa 1.500 Quadratmeter großer Urwald aus jungen Sträuchern, Obstbäumen und Eiben. Was halt in den letzten 30 Jahren von allein aufgegangen ist.

Schädel voller Flausen

Jetzt kann man sich vorstellen, dass das ein Paradies für Rotzbuben mit einem Schädel voller Flausen ist. Wenn die Fratzen aus der Schule kommen, sind die Arbeiter meist schon weg. Dann rauchen die Rotzlöffel dort heimlich, machen Sprengexperimente und anderen Unsinn. Und so hat es sich eingebürgert, dass ich als Nachbar immer fürchterlich schimpfe, wenn ich die Rabauken drüben sehe. Je schlimmer das ist, was sie gerade ausgefressen haben, umso schneller flüchten sie dann.

Doch im vergangenen Jahr, im Frühling, da hat es tagelang ausgesprochen oft am Nachbargrundstück geraschelt, ohne dass jemand zu sehen war. Den Schimpftiraden folgten zwar Geräusche, die nach Flucht klangen, aber es waren nie Kinder zu sehen, geschweige denn ihr aufgeregtes Getuschel, das immer folgte, wenn sie sich vorne am Parkplatz in Sicherheit fühlten.

Raschelreh

Meine Frau sah das Reh als Erste. Es schritt langsam entlang des Zaunes, wohl um einen Ausweg aus dem Grundstück zu suchen. Es gibt auch einen Ausweg, nur einen, und der führt vorne über den Supermarktparkplatz. Also rannten wir rüber und begannen die Einkaufswagen so auf dem Gelände zu verteilen, dass sie keine Barriere zum Urwald hin bildeten. Es war Samstagvormittag, und bis Montag würde das Reh so Gelegenheit haben, seinen Weg in die Freiheit zu finden, bevor die Arbeiter die Drahtgestelle, vermutlich die Rotzbuben verfluchend, wieder umstellten.

Ein Reh schaut in seinem Weingarten nach dem Rechten.
Foto: APA

Als am Sonntag das Reh immer noch da war, versuchten wir es gemeinsam vom Grundstück zu treiben. Vielleicht waren wir zu vorsichtig – wir wollten das Reh ja nicht unnötig ängstigen –, jedenfalls sahen wir nach zwei Stunden, zerstochen und zerkratzt von Dornen, das Reh uns immer wieder ausweichen, aber nicht in die Freiheit laufen. Resignation. Rückzug. Neuer Plan.

Exekutive mit und ohne Kappe

Tags darauf rief ich bei der Polizei an, fragte, an wen ich mich denn wende könne, und man sagte mir zu, sich um den Fall zu kümmern. Tatsächlich standen keine Stunde später zwei Uniformierte dort, wo der Parkplatz in den Urwald übergeht. Das Reh ließ sich natürlich nicht sehen, und der Urwald war jetzt nicht gerade eine Einladung, da durchzustreifendiensten, um es zu suchen. Die Männer zogen wieder ab, mit dem Versprechen, sich zu kümmern.

Drei Tage später war das Reh immer noch da, und ich wieder bei der Polizei. Kurz darauf stand ein Jäger an genau dem Ort, an dem Tage zuvor die Polizisten resigniert hatten. Er stemmte die Hände in die Hüften, schaute in den Urwald und fragte mich, ob ich der sei, der die Polizei gerufen habe. Er bat mich harsch, das nicht mehr zu tun. Es bringe nämlich nichts, außer dass die ihn immer anriefen. Er könne aber nichts tun. Schießen darf er das Reh mitten im Ort nämlich nicht.

Auf den Hund gekommen

Es fiel mir nicht leicht, ihm nicht zu sagen, was ich mit ihm mache, wenn er das Reh erschießt, verstand mich dann aber doch darauf, ihm zu erklären, dass es ohnedies nicht unsere Intention sei, das Reh zu töten, sondern es wieder in die Freiheit zu entlassen. Nein, nein, nein, konterte der Jäger, raustreiben könne er das Reh auch nicht. Es würde unweigerlich auf der Straße in ein Auto laufen, und dann hätt ma des Theater.

Ein Rudel Hunde. Vermutlich Dackel.
Foto: APA

Am nächsten Tag haben sich an der Busstation, die sich unweit des aufgelassenen Supermarkts befindet, zwei alte Damen unterhalten. Die eine erzählte amüsiert, dass da gestern der Jagdaufseher herkommen musste, weil die Neuen – sie zeigte auf unser Haus –, die da aus der Stadt zugezogen sind, glauben, sie hätten ein Reh gesehen. Dabei sei sich der Jäger sicher, dass der Stadttrottel sicher nur einen Hund gesehen habe, den er sicher nicht von einem Reh unterscheiden könne.

Lieber fett als tot

Nachdem auch die alarmierte Amtstierärztin jede Hilfe verweigert hatte, musste wieder eine neue Lösung her. "Können wir ihn behalten?", fragte meine Frau. Nachdem wir ja eh nur zwei Katzen haben, sei ihr ohnedies noch ein Name übriggeblieben, nämlich Stanislaus, und der passe gut zu dem feschen Rehbock.

Tags darauf kaufte ich in der Mühle im Ort Mais. Das fressen Rehe gern. Denn wenn wir Stanislaus schon einen Namen geben, dann müssen wir ihm auch was zum Beißen hinstellen. Jetzt sagte zwar ein anderer, ein befreundeter Jäger, dass man Stanislaus maximal im Winter füttern müsse, er sich bis zum ersten Schnee schon was finde und Mais gar keine so gute Idee sei, weil dann der Magen übersäuern würde.

Ein romantisches Reh oder, sagen wir, ein Streunislaus.
Foto: APA

Doch das Argument, ihn nicht zu füttern, zog bei uns nicht. Lieber soll der Stanislaus an Fettleibigkeit als an einer Kugel zugrunde gehen. Also fuhr ich ins Lagerhaus, wo im Frühsommer die Auswahl an Rehfutter bescheiden ist, das Gesicht des Verkäufers diesen makelhaften Umstand aber entschädigte. Nicht nur, dass ich vollkommen abseits der Saison zwei Sack Rehfutter wollte, stand ich auch im Anzug vor ihm, mit feinen Schuhen und Schickimicki-Sonnenbrille in den obersten Hemdknopf gehängt. Das Auto, in dessen Heck die beiden Säcke verschwanden, sah auch nicht annähernd so aus, als hätte es schon jemals einen Feldweg gesehen, weil es mit seinen Spoilern unweigerlich an der ersten Grasnarbe aufgesessen wäre.

Noch einmal ein Hund

Stanislaus gedieh prächtig. Er nahm das Futter dankend an, mischte es mit dem, was er auf dem Grundstück fand. Inzwischen fürchtete er sich auch nicht mehr vor dem Hund der Nachbarin, der oft minutenlang am Zaun stand und ihn anbellte. Es sollte nicht lange dauern, bis er sich dadurch nicht einmal vom Fressen abhalten ließ.

Weil wir merkten, wie schnell Stanislaus sich mit neuen Situationen abfindet, gaben wir besondere Acht darauf, dass er Menschen gegenüber scheu bleibt. Nicht, dass er, wenn er irgendwann doch wieder rausfindet, zu jedem Spaziergänger im Wald zutraulich hinrennt. Das könnte ihm nicht gut bekommen.

Advent-Erleuchtung

Doch Stanislaus ging nicht mehr. Und so wurde uns im Advent des vergangenen Jahres der Fehler bewusst. Stanislaus darf gar nicht Stanislaus heißen, sondern natürlich Rudolph. Rudolph, das Weißpopsch-Rehtier. Wir tauften ihn von einem Tag auf den anderen um. Darin haben wir Übung. Die Katze vom Nachbarn, die immer zu uns zum Naschen kommt, mussten wir auch von Gina auf Louis umtaufen, nachdem wir erfahren hatten, dass Gina eben eigentlich Louis heißt – und einer ist.

Seit Rudolph auf dem Nachbargrundstück lebt, ist Louis dort übrigens seltener zu finden. Die Rotzbuben trauen sich auch nicht mehr her. Nur unsere Katzen besuchen Rudolph regelmäßig. Fridolin am ehesten, um dort Mäusen nachzustellen, Herbert, um Rudolph das Rehkraftfutter aus der Schüssel zu fressen. Rudolph stört das nicht. Der wartet, bis der Herbert fertiggenascht hat, und frisst dann.

Fenster in die Wildnis

Warum wir das so genau wissen, wenn wir doch darauf schauen, dass Rudi scheu bleibt? Seinen Futterplatz haben wir ihm so eingerichtet, dass wir ihn vom Esszimmer aus beobachten können, ohne dass Rudi uns sieht.

Auch dieser Rudi kann uns nicht sehen.
Foto: APA

Natürlich habe ich dem Herrn Jäger bei der nächsten Gelegenheit ein Bild von dem Hund gezeigt, der bei uns am Nachbargrundstück lebt. Er hat erst nur verschwommen das schöne Krickerl, das Geweih, gesehen, und als er zur Lesebrille greifen wollte, um den kapitalen Bock genauer betrachten zu können, war das Smartphone schon wieder in meiner Hosentasche verschwunden. Sie wäre eine launige Lesung, die E-Mail-Konversation, die sich daraufhin zwischen uns entsponnen hat, aber die erspar ich Ihnen.

Noch mehr Jäger

Wie in jeder gesunden österreichischen Familie gibt es auch in unserer Jäger. Der eine brachte uns einen Salzleckstein für Rudi. Der andere meinte, Rudi würde ohnedies auf dem Grundstück aus- und eingehen, wir würden das nur nicht merken. Den Salzstein verschmähte Rudi, und ausgegangen ist er bestimmt auch nie. Wir brachten ihn gut über den Winter, schauten ihm zu, wie sein neues Geweih wuchs, beobachten ihn beim Herumtollen.

Wir waren ein wenig hin- und hergerissen, als wir heuer bemerkten, dass uns Rudi verlassen hat. Wir sahen ihn auf einmal nicht mehr. Und auch wenn er seit dem Frühjahr immer weniger aus der Schüssel und mehr vom Urwald gefressen hat – seit einer Woche hat er sein Futter gar nicht mehr angerührt. Es war mitten in der Brunftzeit, und er dürfte wohl dem Duft gefolgt sein, dem wir alle schon einmal erlegen sind.

Wildtierkunde

Auch der befreundete Jäger sah das so. Der hielt mich eh schon für einen der festesten Deppen auf dem Planeten, mit dem konnte ich stets über meine Rudi-Sorgen offen reden. Er nutzte diese Gelegenheiten alle gern für Belehrung: Füttern müsste man ein Reh noch immer nicht, und dass wir ihm eine Wasserschüssel hinstellten, sei der Hirnrissigkeit Gipfel. Rehe saufen nämlich kein Wasser aus einer Schüssel. Ich werd ihm bei Gelegenheit ein Foto zeigen müssen, wo Rudi doch aus der Schüssel säuft. Vielleicht hat er tatsächlich viel von einem Hund … Aber eine Krippe hätte ich im bauen sollen. Das Futter auf den Boden zu stellen, ohne Dach darüber. So ein Blödsinn.

Aber die Sache hatte sich ja nun eh erledigt. Vom Rehfutter war nicht mehr viel übrig. Ich wollte es im Winter auf meinen Spaziergängen im Wald – wohl sehr zur Unfreude der Jäger – ausbringen. Aber die hassen mich eh schon, also kommt es darauf auch nicht mehr an.

Fenstergucker

Auch wenn Rudolph nicht mehr da war, blieb die Routine, regelmäßig aus dem Esszimmerfenster zu schauen. Jetzt war es halt mehr ein Beobachten, was die Katzen machen, ob sie die Eichhörnchen ärgern oder umgekehrt, ob der Eichelhäher wieder die Mietzen verjagt, der schöne Specht mit seinem bunter Federkleid und da drüben das Reh mit dem weißen Hintern. Das Reh? Das Reh! Rudi war eh noch da. Wir Reh-Raben-Eltern haben ihm sein Futter weggenommen, sein Wasser. Der arme Rudi.

Ein Eichhörnchen ist kein Reh. Darum haben unsere Oachkatzln, die natürlich auch eine Futterstelle bekommen haben, diese noch nicht angenommen.
Foto: AFP

Keine drei Minuten später stand die komplette Menage wieder am Zaun. Und jedem, der jetzt sicher ist, dass Rudi weg war: Er hat gefressen, als hätte er eine Woche lang nix bekommen.

Geschenke, Geschenke, Geschenke

Wir wussten nicht, sollen wir uns freuen, dass er da ist, oder stimmt uns das vielmehr traurig? Aber eines war klar: So kann es nicht weitergehen. Es gibt viel zu tun. Also bastelte ich Rudi, als kleines Geschenk zum Nikolaus, eine Krippe, in der sein Futter nun vor dem Regen und dem Herbert sicher ist.

Was soll ich sagen? Nach drei Tagen frisst er auch schon aus seiner neuen Krippe. Aber nur dann, wenn sein Topf am Boden, den er immer noch hat, leer ist. Und was er zu Weihnachten bekommt, wissen wir auch schon. Ein schönes Lager aus Stroh, überdacht, in einem für alle Nachbarn uneinsehbaren Teil des Grundstücks, wo er dann im Winter seine Ruhe hat und nicht angeschneit wird.

Die sinnlose Knallerei

Natürlich habe ich das einigen der involvierten Jäger alles erzählt. Ich versuche so, allzu grobe Fehler in der Rehhaltung zu umgehen. Aber wenn sie mir unisono den Vogel zeigen, weil ich das Reh verwöhne, dann weiß ich, dass wir alles richtig machen und es Rudi, unserem Weißpopsch-Rehtier, gut geht.

Bleibt nur noch eine Sorge. Silvester. Am liebsten würden wir Rudi ja auch vor dieser sinnlosen Knallerei schützen. Doch dazu fehlt uns noch die zündende Idee. (Guido Gluschitsch, 16.12.2018)