Weltberühmt durch seinen Roman "Der englische Patient": Michael Ondaatje.

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Dies ist ein makelloser Roman. Dies ist ein perfekter Roman. Dies ist vielleicht der perfekte Roman dieses Jahrzehnts. Bis zu Seite 217. Es ist ein gewaltiger, ja überwältigender Sog, der in Michael Ondaatjes Roman Kriegslicht mit dem ersten Satz einsetzt und sich über 200 Seiten fortsetzt. Der Auftakt ist kraftvoll, suggestiv und in seiner Lakonie überwältigend: "Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren."

Nathaniel ist vierzehn, seine Schwester Rachel zwei Jahre älter, als sich ihre Eltern von ihnen verabschieden, da der Vater für ein Jahr nach Singapur versetzt wird. Natürlich würde für die beiden Kinder, die in London bleiben, gut gesorgt werden, versprechen die Eltern. Alles, fast alles davon wird sich als Lüge herausstellen.

Der Falter übernimmt die Aufsicht über die Teenager. Falter nennen ihn die Geschwister, weil er, groß und schlank, etwas Flatterhaftes an sich hat. Rasch finden sich in ihrem Elternhaus merkwürdige Charaktere ein, ein Boxer zum Beispiel. Diese nehmen die beiden unter ihre Fittiche, auch wenn es keinen zivilen Anschein macht, eher das Gegenteil davon: Was treiben diese Verbrecher nur in ihrem Haus?

Während Rachel bald die Liebe zum Theater entdeckt, vernachlässigt Nathaniel die Schule. Während eines Jobs in einem Restaurant verliebt er sich in eine junge, lebenslustige Frau, die ihn in die körperliche Liebe einführt. Kriegslicht ist auch ein großer, intensiver London-Roman. Die Themsestadt ist noch stark vom Krieg gezeichnet. Sie gehen dem Boxer beim Schmuggeln zur Hand. Ins Land geschmuggelt werden beispielsweise Windhunde, später auch ominöse, nie gänzlich geoffenbarte Waren, die quer durch London transportiert werden. Magisch ist dies, magisch geschildert, magisch verzaubernd.

Geheimnisse

Aber auch Suffolk, besonders die Gegend südöstlich der Küstenstadt Lowestoft, spielt eine Rolle im Buch. Dort steht abgelegen auf einer Anhöhe das Elternhaus der Mutter. Dort, im Gewächshaus, stirbt sie nur wenige Jahre nach Kriegsende, nachdem sie zumindest zu Nathaniel ein von Nähe, aber auch von Lücken und Auslassungen geprägtes Verhältnis mühsam hatte aufbauen können. Die Aussparungen verdanken sich ihrer Tätigkeit, derentwegen sie einst verschwand, nicht ins Ausland, sondern im Geheimdienst. In den auf ihren Tod folgenden Jahren wird Nathaniel auch in den Dienst des Geheimdienstes treten, Stückchen für Stückchen, Karteikarte für Karteikarte zu rekonstruieren versuchen, was sie in den Kriegsjahren tat.

Es geht um Folgen des Krieges. Um die Folgen für eine gesprengte Familie und für Kinder, deren Eltern nicht mehr auftauchen. Der Vater verschwindet gleich zu Anfang und wird nur noch zweimal kurz und abwertend erwähnt. Auch Rachels Verhältnis zum Bruder kühlt sich ab bis zur distanzierten Sachlichkeit.

Mit Seite 217 wechselt Michael Ondaatje für die letzten einhundert Seiten die Perspektiven. Zuerst geht es zu Marsh Felon, dem Agentenwerber und Agentenführer der Mutter, der sie liebte und ein sozialer Aufsteiger war – er schaffte es vom Dachdeckergehilfen bis nach Cambridge. Dann zu Nathaniels Mutter selber, die als Funkerin "Gloria" während des Zweiten Weltkriegs bei vielen Nacht-und-Nebel-Aktionen zur berühmt-berüchtigten Stimme des Geheimdienstes wurde. Und schließlich Rache zum Opfer fiel und neuen, mit dem Eisernen Vorhang sich einstellenden politischen Konstellationen.

Was zuvor so lange in feinopaker Schwebe gehalten wurde, wird nun aufgeklärt und erläutert. Ebendies lässt das Buch durchsichtiger werden, jedoch auch eingängiger. Die Magie weicht. Es will nicht ganz einleuchten, weshalb der in Toronto lebende 75-jährige Romancier, der vor einem Vierteljahrhundert mit Der englische Patient weltbekannt wurde, unbedingt jeden Strang mit allen anderen Strängen zusammenbringen will, warum er noch das letzte Rätsel aufdecken möchte – den Tod der Mutter, das weitere Leben des Boxers, jenes der ersten Geliebten -, aus welchem Grunde er jetzt vieles detailliert, teils überdeutlich auspinselt.

Am Ende ist Nathaniel älter, viel älter. Er muss erkennen, dass er kaum etwas gesehen hat, kaum etwas erkannt hat, nur wenig davon realisierte, was tatsächlich real war in seinem Leben. Alles ein Grund für seinen Rückzug in den ummauerten Garten, in ein kleines Häuschen neben jenem seiner Mutter. Ein Leben partieller Blindheit, umgeben von Landkarten und Karteikarten, Zeichnungen und Büchern. Ein Leben inmitten von Hinweisen und Zeichen, die sich Nathaniel weitgehend entzogen. Bis auf drei, vier überwörtliche Eindeutschungen hat die Übersetzerin Anna Leube lobenswerte Arbeit geleistet.

Ein Buch der Trauer, eine Geschichte von Rückzug, eine Erzählung der Verluste, der Desillusionierung und der Einsamkeit. Ein großer Roman. (Alexander Kluy, 15.12.2018)