Der deutsche Schriftsteller Wilhelm Genazino ist 75-jährig gestorben.

Foto: Hanser/Hassiepen

Als ihm 2004 mit dem Büchnerpreis die wichtigste literarische Auszeichnung des deutschen Sprachraums verliehen wurde, sagte Wilhelm Genazino in seiner Dankesrede, er träume oft von einer "Schule der Besänftigung". "Sie "würde", so der Autor, "funktionieren wie eine Abendschule, jeder, der sich zwar erschöpft aber noch nicht erledigt fühlt, wäre willkommen, ebenso jeder, der fürchtet, dass ihn seine Anpassungen vielleicht noch den Verstand kosten. Unterrichtet würden die Fächer Existenzkunst, Enttäuschungspraxis, Sehnsuchtsabbau, Fremdheitsüberlistung, Hoffnungsclownerie."

Doch Genazino wusste: "Eine Schule der Besänftigung gibt es nicht, sie wird es auch nie geben. Sie verstehen, diese Schule ist nichts anderes als die allerneueste Blüte meiner kindlichen Feuerwerksfantasien von damals, sie ist, mit einem Wort, nichts anderes als Literatur."

Ja, Literatur! Der 1943 in Mannheim geborene Schriftsteller Wilhelm Genazino, der die Trümmerlandschaften der Nachkriegszeit einmal seine Uraufführung genannt hat, war ein Meister der Nuancen, des Angetippten, nur Angedeuteten. Und eigentlich kann man sich alle Figuren dieses Schriftstellers, ob sie nun Abschaffel (aus der gleichnamigen Trilogie in den 1970er-Jahren), Warlich (Das Glück in glücksfernen Zeiten, 2009) oder einfach Reinhard (Bei Regen im Saal, 2014) heißen, immer nur als Gehende, als Flaneure vorstellen.

Dröhnende Stille

Selbst wenn sie irgendwo stehen, bleiben die literarischen Geschöpfe dieses Schriftstellers, die sich gern in den Vororten von Frankfurt am Main herumtreiben, in Bewegung, sie lauschen dann nach innen und geben sich dem Echo von Eindrücken und Erinnerungen hin, die nicht zum Verstummen zu bringen sind.

Genazino, der zunächst Germanistik und Soziologie studierte, bevor er als Journalist arbeitete (u. a. bei Pardon), um schließlich den Beruf des Schriftstellers zu wählen, hat schon Mitte der 1970er-Jahre einen ganz eigenen Ton gefunden, dem er bis zuletzt treu blieb. Von Anfang an handeln seine Bücher von Männern im vermeintlich besten Alter, die an früher Lebensermüdung und einer unbestimmten Sehnsucht leiden.

Als Fahrer in Wäschereien, Büroangestellte oder Lokalredakteure kämpfen sie gegen die Zumutungen des Alltags und arbeiten sich an der Überwindung abgelebter Irritationen ab. Zuweilen fristen sie ihr Leben aber weitaus spektakulärer – etwa als freischaffende Apokalyptiker, Panik-Berater, Empörungs-Beauftragte oder Staubforscher.

Der Balanceakt über dem Abgrund des Scheiterns ist im Werk Genazinos ein zentrales Motiv, das er immer wieder variierte. In den letzten Jahren brachte ihm das den Vorwurf ein, alten Wein in neue Schläuche abzufüllen, was den großen, stämmigen Autor mit dem freundlichen, aber entschlossenen Kindergesicht wenig anfocht. Das Unauffällige, Leise, Unspektakuläre war es, dem sich dieser Autor verbunden fühlte. Er sah dies alles im Verschwinden begriffen. Auch in seiner Poetikvorlesung Die Belebung der toten Winkel (2006), in der er konstatierte, dass unsere Städte "durch fortlaufende ökonomische Vergewaltigungen ihre intimen Stellen längst eingebüßt haben, sie zeigen alles, was sie haben und das ist schon auf den ersten Blick zu viel".

"Die Penetranz der Waren", so Genazino weiter, "macht den Flaneur zum Streuner und ist der Grund für die Fluchtförmigkeit seines Umherstreifens. In Umgebungen ohne Diskretion kann es Flaneure nicht mehr geben." Wilhelm Genazino verstarb am 12. Dezember nach kurzer Krankheit in Frankfurt am Main. (Stefan Gmünder, 14.12.2018)