Im September 1897 landete der Brief eines kleinen Mädchens auf dem Schreibtisch von Francis P. Church, einem Redakteur der zu jenen Tagen beliebten New Yorker Tageszeitung "The Sun". In krakeliger Schrift stellte die achtjährige Virginia O'Hanlon eine außerordentlich wichtige Frage, die nur die Zeitung beantworten konnte.

Virginia O'Hanlon im Alter von etwa sechs Jahren.
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Vorangegangen war dem Schreiben eine Diskussion Virginias mit ihrem Vater Philip O'Hanlon. Virginia wollte unbedingt wissen, ob es denn tatsächlich einen Weihnachtsmann gäbe. Einige ihrer Freunde hatten offenbar Zweifel daran geäußert. Um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, schlug O'Hanlon seiner Tochter kurzerhand vor, doch einfach einen Brief an seine Lieblingszeitung, die "Sun", zu schicken. Denn, so Virginias Vater: "Was in der 'Sun' steht, das stimmt auf jeden Fall."

Und so verfasste die kleine Virginia ihren Brief. Sie schrieb:

"Ich bin acht Jahre alt. Einige meiner Freunde sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Papa sagt, was in der 'Sun‘ steht, ist immer wahr. Bitte sagen Sie mir: Gibt es einen Weihnachtsmann?"

Francis P. Church, der Kolumnist, der die Nachricht las, verfasste eine Antwort, die bis heute zu den am häufigsten zitierten Leitartikeln weltweit zählt.

Francis Pharcellus Church, Leitartikelschreiber bei der "Sun".
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"Gibt es einen Weihnachtsmann?"

Am 21. September 1897 erschien seine Antwort auf Virginias Brief auf Seite 6 der "Sun":

"Virginia, deine kleinen Freunde haben nicht recht. Sie sind beeinflusst von der Skepsis eines skeptischen Zeitalters. Sie glauben an nichts, das sie nicht sehen können. Sie glauben, dass nichts sein kann, was ihr kleiner Verstand nicht fassen kann. Der Verstand, Virginia, sei er nun von Erwachsenen oder Kindern, ist immer klein. Im Weltall verliert er sich wie ein winziges Insekt. Solcher Ameisenverstand reicht nicht aus, die ganze Wahrheit zu erfassen und zu begreifen. 

Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Es gibt ihn so gewiss wie Liebe und Großzügigkeit und Zuneigung bestehen, und du weißt, dass sie reichlich vorhanden sind und dadurch kann unser Leben schön und heiter sein. Wie öde wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe. Sie wäre so dunkel, als gäbe es keine Virginia. Es gäbe dann keinen Glauben, keine Poesie, keine Romantik, die das Leben erträglich machen. Das ewige Licht, mit dem die Kindheit die Welt erfüllt, wäre ausgelöscht.

Nicht an den Weihnachtsmann glauben! Du könntest ebenso gut nicht an Elfen glauben! Du könntest deinen Papa bitten, Menschen anzustellen, die am Weihnachtsabend auf alle Kamine aufpassen, um den Weihnachtsmann zu fangen; aber selbst wenn sie den Weihnachtsmann nicht herunterkommen sähen, was würde das beweisen? Niemand sieht den Weihnachtsmann, aber das ist kein Zeichen dafür, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Die wirklichsten Dinge in der Welt sind jene, die weder Kinder noch Erwachsene sehen können. Sahst du jemals Elfen auf dem Rasen tanzen? Selbstverständlich nicht, aber das ist kein Beweis dafür, dass sie nicht dort sind. Niemand kann die ungesehenen und unsichtbaren Wunder der Welt begreifen oder sie sich vorstellen.

Du kannst eine Babyrassel auseinanderreißen und nachsehen, was darin die Geräusche erzeugt; aber die unsichtbare Welt ist von einem Schleier bedeckt, den nicht der stärkste Mann, noch nicht einmal die gemeinsame Stärke aller stärksten Männer aller Zeiten, auseinanderreißen könnte. Nur Glaube, Phantasie, Poesie, Liebe, Romantik können diesen Vorhang beiseite schieben und die übernatürliche Schönheit und den Glanz dahinter betrachten und beschreiben. Ist das alles wahr? Ach, Virginia, in der ganzen Welt ist nichts sonst wahrer und beständiger.

Kein Weihnachtsmann? Gott sei Dank! Der Weihnachtsmann lebt, und er wird ewig leben. Sogar in zehn mal zehntausend Jahren wird er da sein, um Kinder wie Dich und jedes offene Herz mit Freude zu erfüllen." (Übersetzung adaptiert durch den Blogger)

Der Leitartikel "Is there a Santa Clause?" im O-Ton.
Foto: Public Domain

Die  Antwort wird zur Weihnachtslegende

Bis zum letzten Jahr ihres Erscheinens 1950 wurde dieser Artikel alljährlich auf der ersten Seite der New York "Sun" veröffentlicht. Andere Zeitungen haben danach diese Aufgabe übernommen und drucken die Kolumne jedes Jahr zu Weihnachten ab. Die Popularität des Artikels liegt wohl in der bewegenden Antwort des Journalisten auf eine scheinbar einfache Frage eines Kindes und in der Erkenntnis, dass auch Fragen junger Menschen ernsthafte Antworten verdienen.

Virginia O'Hanlon, die Lehrerin wurde, erhielt bis zu ihrem Tod im Jahr 1971 Nachrichten von Menschen aus aller Welt, die Näheres zu ihrem Brief und der Antwort von Francis Church wissen wollten.

Santa Claus
Thomas Nast | Public Domain

Allen Leserinnen und Lesern des Zeitreiseblogs ein frohes Fest und stressfreie Feiertage! 

Mit weihnachtlichen Grüßen,

Kurt Tutschek.

(21.12.2018)

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