Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg gab es vor allem einen Bereich der Physik, in die experimentelle und theoretische Arbeit florierte: die Kernphysik. Diese goldene Ära nahm ihren Anfang mit Ernest Rutherfords Entdeckung im Jahr 1919, dass Atomkerne künstlich verändert werden können. Es folgten zahlreiche weitere Durchbrüche der Radioaktivitätsforschung in den folgenden Jahren.

"Diese fundamentalen Entdeckungen ergaben sich aus der Bemühung, die nuklearen Phänomene zu verstehen, sie waren nicht durch den Wunsch motiviert, praktische Anwendungsmöglichkeiten für die Nuklearenergie zu schaffen", schreibt Roger H. Stuewer in seinem neuen Buch "The Age of Innocence". "In diesem Sinne lebten die Kernphysiker in einem Zeitalter der Unschuld zwischen den beiden Weltkriegen", resümiert der US-amerikanische Physik- und Wissenschaftshistoriker.

Wien als einstige Weltstadt

Neben Cambridge, Berlin, Kopenhagen, Paris oder Wien lässt Stuewer keine wichtige Station für die Entwicklung der Kernphysik unerwähnt. Das Wien-Kapitel wartet mit besonders stimmungsvollen Episoden und Erzählungen auf über eine Stadt, in der nicht nur bedeutende Physiker wie Stefan Meyer tätig waren, sondern die auch eine Weltstadt der Musik und des Theaters war. Stuewers Sensibilität für dieses Flair ist wohl auch dem Umstand geschuldet, dass er mit einer Wienerin verheiratet ist und sich in seinen Ausführungen mitunter Archivalien seines Privatarchivs bedienen kann.

Wie aus der unschuldigen Suche nach Wahrheit plötzlich kriegsrelevante Anwendungen hervorgingen, zeichnet Stuewer in seinem Buch nach. Dabei erweist er sich als ein äußerst mitreißender Erzähler: Stuewer vermittelt nicht nur gut verständlich die physikalischen Inhalte, sondern bietet seinen Leserinnen und Lesern durch anekdotische Einsprengsel auch einen lebhaften Eindruck der jeweiligen Persönlichkeiten, die Physikgeschichte geschrieben haben – etwa vom ungeschickten Experimentalphysiker J. J. Thomson oder der zurückhaltenden Physikerin Lise Meitner. Genau das macht "The Age of Innocence" auch zu einem durchaus lesenswerten Buch, auch wenn es freilich nicht die erste Publikation ist, die die Ausnahmejahre der Physik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt. (Tanja Traxler, 17.12.2018)