Unter der Präsidentschaft Donald Trumps zeigen sich die USA als tiefgespaltenes Land, in Italien ließ der Haushaltsstreit der Regierung aus Fünf-Sterne-Bewegung und Lega Nord mit der EU-Kommission neuerliche Sorgen um die Eurozone anschwellen. Bei einer Tasse Tee erläutert der Verhaltensökonom Ernst Fehr, heuer von deutschsprachigen Medien zum einflussreichsten Volkswirt der Region gewählt, im Gespräch mit dem STANDARD die Hintergründe des Zulaufs für populistische Politiker und Parteien.

STANDARD: Wie erklären Sie als Verhaltensökonom, dass immer mehr Menschen populistische Politiker wählen, obwohl diese oft Politik gegen ihre wirtschaftlichen Interessen machen?

Fehr: Weil sie ihren Versprechen geglaubt haben. Es ist auch nicht so, dass Menschen Wahlentscheidungen immer gemäß ihrem Eigennutz treffen. Auch das Empfinden von Fairness spielt eine große Rolle.

STANDARD: Also ist das Empfinden von Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit so stark, dass es die Leute den Populisten in die Arme treibt?

Fehr: Die Wahlentscheidung ist eine höchst komplexe Entscheidung, da spielen auch viele Dinge hinein, die nichtwirtschaftlicher Natur sind. In den USA haben Fremdenfeindlichkeit und Rassismus eine große Rolle gespielt. Offen gesagt: Wenn man so stark polarisiert wie manche populistische Politiker, dann bringt das das Schlechteste im Menschen zum Vorschein. Ich glaube, dass das bei Trump der Fall ist: Er verstärkt nicht die guten Seiten, sondern die miesen Seiten im Menschen. Das zeigt sich auch daran, dass es wieder salonfähig geworden ist, rassistische Äußerungen zu tätigen. Das hat auch eine Rolle gespielt, aber nicht nur das. Es ist ein Konglomerat an unterschiedlichen Motiven.

Mitglieder des Ku-Klux-Klans machten im Juli 2017 in Charlottesville, wo ein Rechtsextremer einen Monat später eine Gegendemonstrantin tötete, kein Hehl aus ihrer Gesinnung.
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STANDARD: Kann man Ausländerfeindlichkeit auch mit Gerechtigkeitsempfinden in Zusammenhang bringen?

Fehr: Natürlich. Es gibt Untersuchungen in Deutschland über die Motive, die AfD zu wählen. Leute, die sagen, dass sie im Leben zu kurz gekommen sind, wählen in höherem Maße AfD. Das sind diejenigen, die gegen Migranten sind, da diesen – auch medial – viel Aufmerksamkeit geschenkt wird und ihnen nicht. So empfinden sie es zumindest. Das Gefühl des "Zu-kurz-gekommen-Seins" ist eine mächtige Triebfeder.

STANDARD: Wie spielt da die Ungleichheit hinein?

Fehr: Das Interessante an der Sache ist, dass es uns in Österreich und Deutschland noch nie so gut gegangen ist. Das ist ein Fakt. Aber das ist nicht "top of mind" bei den Leuten. Wenn sie von Abstiegsangst erfasst sind oder in Ostdeutschland leben und das Gefühl haben, die Wessis schauen auf sie herunter und die talentiertesten Leute gehen in den Westen – dann entsteht ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Benachteiligung. Der Mensch hat die Gabe, die Welt durch eine sehr verzerrte Linse zu sehen. Das kann ein geschickter Politiker ausnützen.

STANDARD: Aber es gibt Länder mit Hang zu Populismus, denen es nicht besser geht.

Fehr: Italien ist ein Beispiel dafür. Die Italiener sind heute bei 95 Prozent des Gesamtoutputs, den sie vor der Krise hatten. Die sind nach zehn Jahren um fünf Prozent schlechter dran. Auch das erklärt, warum sie plötzlich diese extremen Parteien wählen. Das ist auch eine wichtige Komponente der Frustration und Verzweiflung. Und außerdem haben sie die Nase voll von korrupten Politikern.

STANDARD: In den USA wurde mit Trump auch das politische Establishment abgewählt.

Fehr: In den USA sind viele Verlierer der Globalisierung geografisch konzentriert. Dadurch wird das Problem viel sichtbarer.


"Der Mensch hat die Gabe, die Welt durch eine verzerrte Linse zu sehen. Das kann ein geschickter Politiker ausnützen", sagt Ernst Fehr im Interview.
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STANDARD: Steckt auch Politikversagen dahinter? Weil Einkommen und Vermögen nicht so umverteilt wurden, dass weniger Leute auf der Strecke bleiben?

Fehr: Ja, es ist ein Politikversagen. Die Politik hat einen schweren Fehler gemacht, indem sie immer nur davon geredet hat, dass Globalisierung gut ist, und keine Maßnahmen getroffen wurden, die zur gerechteren Verteilung der Globalisierungsgewinne führen. Wenn man in den USA den Job verliert, dann verliert man in der Regel auch die Krankenversicherung. So etwas kann man sich in Europa gar nicht vorstellen. Arbeitslose sind bei uns krankenversichert.

STANDARD: Aber das allein kann es nicht sein, denn auch in Europa werden Populisten gewählt.

Fehr: Natürlich, aber es ist eine Komponente. Wo sind in Europa die Populisten an die Macht gekommen? Schon dort, wo es den Leuten schlechter geht. In Spanien gibt es Linkspopulismus. In Italien Rechtspopulismus, in Griechenland Linkspopulismus – alles Länder, in denen es objektiv ziemlich schlecht gelaufen ist.

STANDARD: Die Mittelschicht wird auch bei uns tendenziell kleiner. Geht damit ein gesellschaftlicher Stabilisator verloren?

Fehr: Für die USA ist das ökonometrisch sehr gut belegbar, dass die Mittelschicht wegbricht. In Europa erfolgt das tendenziell auch, aber in viel geringerem Ausmaß. Das ist auch eine Komponente beim Aufstieg der populistischen Parteien, aber die Hauptkomponente ist in Europa wahrscheinlich schon die Migrationskrise und die ökonomische Krise, die viel mit dem Euro zu tun hat.

STANDARD: Ist Populismus ein personenbezogenes Phänomen?

Fehr: Es braucht immer – unter Anführungszeichen – die richtige Person dazu. Nicht jeder ist Trump. Nicht jeder ist Salvini. Es braucht Personen, die das Talent haben, die Emotionen aufzugreifen und politisch umzumünzen.

STANDARD: In der Verhaltensökonomie gibt es den Begriff des "Nudging", das heißt, die Bevölkerung ohne gesetzlichen Zwang oder Preisanreize in eine Richtung zu bewegen. Nudgen Populisten mehr als andere Politiker?

Fehr: Nein, das versuchen alle. Die haben einfach gerade eine günstige Konjunktur. Vor zehn Jahre hätten die Leute einen Salvini ausgelacht, heute rennen sie ihm nach. Es ist einfach deren Zeit gekommen. (Alexander Hahn, 18.12.2018)

Ernst Fehr (62) studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien. Derzeit ist der Vorarlberger Professor für Mikroökonomik und experimentelle Wirtschaftsforschung an der Universität Zürich. Mit seinem Bruder Gerhard gründete er 2010 Fehr Advice, eine auf Verhaltensökonomie spezialisierte Beratungsfirma. Das Gespräch fand auf Vermittlung der Zürcher Kantonalbank statt.
Universität Zürich