Die "Anderswürmer" der achtjährigen Zoe bekommen einmal im Jahr Zuwachs und wechseln wöchentlich ihren Namen.
KHM-Museumsverband

Es ist ein kleines Stückchen Holz, auf das mit Bleistift zwei Strichmännchen gezeichnet wurden – das eine unförmig, das andere dünn und ohne Mund. Ein österreichischer Kulturanthropologe hat es in der Nähe eines Fischerdorfs in Ghana gefunden, nachdem es Kinder nach dem Spielen auf der Erde liegengelassen hatten. Dieses bemalte Stückchen Holz ist nun im Weltmuseum zu besichtigen. Und zwar in einer sehr speziellen Ausstellung mit dem Titel "Sharing Stories. Dinge sprechen".

Im Zentrum stehen dabei Objekte, die auf den ersten Blick weder ethnologisch aufschlussreich noch wertvoll sind. Es sind 150 Gegenstände, von denen jeder nur für einen bestimmten Menschen eine ganz besondere Bedeutung hat. "Für dieses Projekt haben wir in Zusammenarbeit mit Einrichtungen wie dem Kunst- und Sozialraum Brunnenpassage, dem Zoom-Kindermuseum und dem Volkskundemuseum die unterschiedlichsten Leute eingeladen, einen für sie bedeutungsvollen Gegenstand für die Ausstellung bereitzustellen und die mit ihm verbundene Geschichte zu erzählen", berichtet Projektleiterin Bianca Figl vom Weltmuseum Wien.

Bedeutungsschwere Stücke

Für seinen Finder und nunmehrigen Besitzer symbolisiert das ghanaische Holzstück die bedrückende Situation der westafrikanischen Fischer, deren Fischgründe von riesigen internationalen Trawlern im großen Stil geplündert werden. Das dicke Strichmännchen und das dünne, das nicht einmal einen Mund zum Essen hat. Braucht es keinen, weil ohnehin nichts Essbares mehr da ist? Unter gewöhnlichen Bedingungen hätte dieses bedeutungsschwere Stück Holz mit seiner Geschichte wohl nie den Weg in ein Museum gefunden.

Warum öffnen sich gerade jetzt die Ehrfurcht gebietenden Hallen des gesammelten Wissens für Gegenstände, die außer ihrem persönlichen Wert für einen einzelnen Menschen wenig vorzuweisen haben? "Üblicherweise wird die Geschichte eines Ausstellungsobjekts von einem Kurator oder einer Kuratorin erzählt, der oder die sich oft jahrelang mit einem Thema befasst hat", so Bianca Figl. "Dadurch kann der Anschein entstehen, dass es sich bei den präsentierten Erzählungen um absolutes, unantastbares Wissen handelt." Mit "Sharing Stories" wolle man auch die Stimmen und Geschichten jener Menschen hörbar machen, die in einem Museum üblicherweise stumm bleiben.

150 Dinge und ihre Geschichte zeigt das Weltmuseum, 20 davon als Fotoporträts.

Die Gegenstände, die sie als "museumsreif" erachteten und für die Ausstellung zur Verfügung stellten, spielen in ihrem Leben eine wichtige Rolle. Der kleine blaue Gummiball, die aus elf verschiedenen Instrumenten zusammengesetzte "Teufelsgeige", die das Leben ihrer Besitzerin verändert hat, oder das gut gehütete Stirnband einer vor Jahren freiwillig aus dem Leben gegangenen Tochter erzählen viel über ihre Besitzer. "Was den Menschen an einem Gegenstand wichtig ist, hat meist sehr viel mit persönlichen Erlebnissen, Erfahrungen, Erinnerungen, Hoffnungen und Träumen zu tun", weiß die Projektleiterin.

Das Rumoren der Vergangenheit

Das in den letzten Jahren stärker werdende Bewusstsein darüber, dass jedes Ausstellungsobjekt aus unterschiedlichen Blickwinkeln erklär- und beschreibbar ist und damit nicht nur eine einzige Interpretation erlaubt, trifft gerade bei ethnografischen Museen auf eine aktuelle Debatte. Wie Objekte in Sammlungen ethnografischer Museen gekommen sind, wird zunehmend selbst zum Forschungsgegenstand der Museen. In der Vergangenheit wurden Objekte von europäischen Experten erklärt und interpretiert, ihre ursprünglichen Besitzer und Nutzer kamen dabei kaum zu Wort. Objekte, die man sich im Zuge der Kolonialisierung angeeignet hatte oder die überhaupt geraubt wurden, sind hochsensible Angelegenheiten.

Die Ballettschuhe der Kinderärztin Nina haben schon einiges mitgemacht.
KHM-Museumsverband

Mit dem Projekt "Sharing Stories" hat man die traditionellen Pfade des Sammelns und Erzählens verlassen. Nicht Kuratoren haben die Ausstellungsobjekte ausgesucht und beschrieben, sondern jene Menschen, deren Leben von den präsentierten Dingen geprägt sind und die eine emotionale Verbindung zu ihnen haben. Dadurch entstehen andere Geschichten.

Etwa jene von den acht "Anderswürmern", deren Namen einmal wöchentlich wechseln und einmal im Jahr Zuwachs bekommen. Oder die von den löchrigen Ballettschuhen, die vom harten Training und frühen Erfolgen ihrer Besitzerin erzählen. Bis Ende März 2019 sind diese Ausstellungsobjekte der besonderen Art noch im Weltmuseum zu besichtigen. Und alle 150 haben ihre eigene, oft sehr berührende Geschichte zu erzählen.

Museumsexperiment

Was aber bleibt von diesem Museumsexperiment? "Wir haben gelernt, was es in der Praxis bedeutet, so ein Projekt partizipativ zu gestalten und basisdemokratisch umzusetzen", berichtet Bianca Figl. "Es ist mühsam und erfordert beträchtliche Ressourcen." Dass es in einer etablierten Institution wie dem Weltmuseum mit seinen eingespielten Prozessen trotzdem so gut funktioniert hat, erfüllt sie mit Stolz. "Ich finde es großartig, dass sich das Museum auf dieses Experiment eingelassen hat." Und damit auf das öffentliche Nachdenken über grundsätzliche Fragen und nicht zuletzt über die eigene zum Teil problematische Geschichte. (Doris Griesser, 5.1.2019)