Bild nicht mehr verfügbar.

Rentiere kommen mit den unwirtlichen Bedingungen der Arktis recht gut zurecht. Ein Prise Schnee ist jedenfalls kein großes Problem. Wer nun annimmt, dass so die rote Nase des "red-nosed reindeer" entstanden ist, den wollen wir einfach in diesem Glauben belassen.

Foto: Getty Images / Wibo de Vries

Der Lebensraum Arktis stellt seine Bewohner vor extreme Herausforderungen: monatelange Dunkelheit, bittere Kälte, eine extrem kurze Vegetationsperiode. Pflanzenfresser haben es unter diesen Umständen besonders schwer. Rentiere jedoch kommen mit den unwirtlichen Bedingungen erstaunlich gut zurecht.

Sie gehören zu den Hirschen und leben in polaren und subpolaren Gebieten, in Nordamerika heißen sie Karibu. Insgesamt gibt es sieben Unterarten, die sich in Größe, Aussehen und Lebensweise zumindest teilweise unterscheiden. Sie alle sind jedoch gut gerüstet gegen die arktische Kälte: Ihr Winterfell ist extrem dick und hat etwa dreimal so viel Haare wie das anderer Hirsche – zusätzlich zu einer ohnehin dichten Wollschicht darunter.

Eingebaute Wärmetauscher

Außerdem haben Rentiere – wie viele andere Säuger- und Vogelarten auch – eine Art Wärmetauscher in den Beinen: Dabei wird warmes Blut, das vom Körperinneren in die Beine strömt, durch kaltes Blut abgekühlt, das aus den Extremitäten zurückfließt. Der Wärmeverlust über die Haut wird so massiv reduziert. Auch ziehen sie in ihren stark gewundenen Nasenschleimhäuten so viel Wärme wie möglich aus der Luft, ehe sie sie ausatmen.

Zum Vergleich: Bei einem gesunden Menschen hat die ausgeatmete Luft etwa 30 Grad, bei einem Rentier nur rund 15. Das Wichtigste aber: Die Rentiere fahren im Winter ihren Stoffwechsel massiv herunter und schränken dadurch ihren Energieverbrauch deutlich ein. Das machen zwar auch andere Arten von Huftieren, aber keine so extrem.

Ein norwegisches Forschungsprojekt, an dem auch das Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie (Fiwi) der Veterinärmedizinischen Universität Wien beteiligt ist, befasst sich auf Spitzbergen mit den Auswirkungen der Erderwärmung auf die dort lebende Rentier-Unterart. Die Österreicher stellen dabei einen vom Fiwi entwickelten Sender zur Verfügung, den die Tiere einfach verschlucken.

Gerät im Pansen-Magen

Das Gerät liegt dann im Pansen-Magen und registriert die Körperinnentemperatur sowie die Herzfrequenz des Tieres. Über ein Telemetrie-Halsband werden die GPS-Daten, die Umgebungstemperatur und Aktivitätsmuster erfasst. Gefangen werden die Tiere für die Ausstattung mit den Geräten auf recht spektakuläre Weise: Zwei Snowmobile überholen das ausgewählte Ren zu beiden Seiten und fangen es mit einem weichen Netz.

Brage B Hansen

Das Projekt ist noch im Laufen, aber aus den Daten eines Vorprojektes und den bis jetzt erhobenen Werten ist eines schon klar: Rentiere sind Extremisten. "Wir wissen vom Rothirsch, dass er seine Stoffwechselrate in Ruhe im Winter auf nur 57 Prozent des Sommerniveaus reduziert", führt Fiwi-Leiter Walter Arnold aus, "beim Steinbock ist es mit 48 Prozent eine noch deutlichere Verringerung und bei den Rentieren auf nur mehr ein Drittel der bisher von Huftieren bekannte Rekord. Die praktizieren Winterschlaf im Gehen."

Allerdings werden nur die äußeren Körperteile sehr kalt. Im Körperinneren liegt die Temperaturreduktion nur im Bereich von Zehntelgraden. Aufgrund der insgesamt deutlich niedrigeren inneren Wärmebildung schlägt das Herz, wenn das Tier ruht, im Winter nur 35- bis 40-mal pro Minute, im kurzen arktischen Sommer dagegen rund 100-mal im gleichen Zeitrahmen.

Fettreserven und Flechten unter dem Schnee

Einen gewissen Energiebedarf haben die Rentiere aber natürlich trotzdem. Zum Teil decken sie den durch Fettreserven ab, die sie sich im Sommer anfressen. Den Rest gewöhnlich durch Flechten, die sie bis zu 60 Zentimeter unter dem Schnee erschnuppern und mit ihren scharfen Hufen ausgraben.

Dass sie sie auch verdauen können, liegt an einem komplexen Bakteriengemisch in ihrem Pansen. Dieses könnte auch der Grund dafür sein, dass Rentiere nicht noch tiefere Körpertemperaturen haben, wie etwa winterschlafende Braunbären. "Es kann sein, dass sich bei stärker abgesenkter innerer Körpertemperatur die Zusammensetzung der Bakteriengemeinschaft ändern und dadurch die Funktionsfähigkeit des Pansens geschädigt würde", erklärt Arnold, "bei entsprechenden In-vitro-Versuchen war das nämlich der Fall."

Während die Flechten genügend Kohlehydrate für den laufenden Betrieb enthalten, fehlt es ihnen an Proteinen. Wachstum ist unter diesen Umständen nicht möglich.

Fressen im Frühling

Dafür brauchen die Rentiere grüne Pflanzen, und diese finden sie im Frühling und Frühsommer. Während dieser Zeit verzichten die Tiere so weit wie möglich auf Ruhephasen und fressen stattdessen lieber so viel wie möglich. Wie sich im Zuge des norwegischen Rentier-Projektes herausgestellt hat, ist ihre innere Uhr dabei nicht, wie bisher angenommen, stillgelegt. Sie ignorieren sie nur.

Wenn die Fettreserven für den Winter angelegt sind, beginnt die Brunft. Die Paarung erfolgt bei den Spitzbergen-Rentieren im Oktober, wobei die Männchen Harems von bis zu zehn Weibchen zusammentreiben. Knappe acht Monate später kommen die Jungen zur Welt. Diese wiegen bei der Geburt nur rund 3,5 Kilo und werden die ersten drei Monate gesäugt. Während dieser Zeit nehmen sie rapide zu: sieben bis acht Kilo pro Monat. Für ihr Überleben spielt – wie auch bei den Erwachsenen – das Wetter eine tragende Rolle, wobei die Erderwärmung zwiespältige Effekte hat.

Gefrorener Regen begünstigt Hungertod

Laut meteorologischen Daten aus den letzten 30 Jahren fällt auf Spitzbergen im Winter immer häufiger Regen statt Schnee. Dieser überzieht die Landschaft oft mit einer ziemlich harten Eisschicht, die die Hirsche mit ihren Hufen nicht mehr aufbrechen können. Die Gefahr des Hungertodes steigt massiv. Auf der anderen Seite verlängert sich angesichts des Klimawandels die Vegetationsperiode und damit die Zeit, in der sich die Rentiere Fettreserven anfressen können. Inwieweit sich diese gegenläufigen Effekte die Waage halten, ist ungeklärt.

Bekannt ist hingegen, dass sich ein guter Ernährungsstatus auch auf die Größe des Geweihs auswirkt, das bei den Rentieren als einzige Hirschart beide Geschlechter tragen. Allerdings werfen die Männchen ihres noch im Herbst ab, wohingegen die Weibchen ihres noch bis zur Geburt der Jungen behalten. Die Rentiere des Weihnachtsmannes sind also Weibchen. Nur damit das auch geklärt ist. (Susanne Strnadl, 19.12.2018)