Mary Poppins lebt mit einem Fuße schon immer in der Illusion: Deshalb bewahrt ihr Spiegelbild auch in Emily Blunts Darstellung sein Eigenleben.

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Blütenweißer Zauber: Julie Andrews als Mary Poppins, 1964.

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Bei der Premiere von Mary Poppins 1964 im Chinese Theatre in Hollywood saß P. L. Travers, die Autorin der Vorlage, im Auditorium und weinte. Es waren allerdings keine Freudentränen. Vielmehr war sie über die Veränderungen der Disney-Adaption entsetzt. Travers hatte zwar vertraglich zugesichert bekommen, das Drehbuch selbst abzunehmen. Doch der Film machte ihr bewusst, wie man ihrer Geschichte um ein so viel kantigeres Kindermädchen die Zähne gezogen hatte. Auch dass man aus der Mutter eine einfältige Frauenrechtlerin gemacht hatte, missfiel Travers. Die australisch-britische Autorin, die gerne Hosen trug und nie geheiratet hatte, vertrat keineswegs traditionelle Werte.

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Eine hübsche Anekdote besagt, dass Travers Walt Disney noch auf der Premierenparty aufgefordert haben soll, die Animationsszenen im Film wieder zu entfernen. "Pamela", soll er geantwortet haben, "das Schiff ist bereits fortgesegelt." Das war es fürwahr. Der Familienfilm wurde mit fünf Oscars ausgezeichnet und blieb über Generationen hinweg einer der beliebtesten Live-Action-Filme des Studios. Er hat letztlich auch Travers' Leben entscheidend mit Mary Poppins verwoben, denn sie schrieb nicht weniger als sieben Fortsetzungen. Ins Kino kam die populärste Nanny der Menschheit – abgesehen von einer sowjetischen Produktion – niemals zurück. Travers hatte sich zeitlebens (sie starb 1996) gegen eine Fortsetzung gesträubt.

50 Jahre später...

Schon allein dieser über 50 Jahre währende Hiatus verleiht Mary Poppins' Rückkehr in der Regie Rob Marshalls die Anmutung eines kleinen Weihnachtswunders. Und die lange Unterbrechung erklärt auch den nostalgischen Gestus des nunmehrigen Sequels, das sich dem Original von 1964 mit einer Ehrfurcht zuwendet, wie man sie sonst nur einem echten Rembrandt entgegenbringt.

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Das Um und Auf ist freilich die Figur der Mary Poppins selbst, die Julie Andrews in ihrer ersten Leinwandrolle unsterblich werden ließ. Allein wie sie mit ihrem Schirm, Blumenhut und den gespreizten Schuhen vom Himmel schwebt, veranschaulicht, was sie (nicht nur) für staunende Kinderaugen so verführerisch macht. Da hat sie mit dem Ordnungmachen per Fingerschnippen oder den Reisen in Pflastersteingemälden noch nicht einmal begonnen.

Selbst P. L. Travers ist die Kraft dieser Darstellung – im Original wird Poppins durch den Wind an die Tür der Familie gefegt – zunächst entgangen. Denn niemand erinnert sich an die überforderten Eltern, alle nur an sie – und an die Angst, dass sie wieder verschwindet. Andrews' Verkörperung mag anders als das literarische Vorbild wenig zum Fürchten sein. Doch ihre Fehlerlosigkeit ist zumindest beunruhigend. Poppins' Abenteuertum, zu dem sie der Tagelöhner Bert (Dick van Dyke) anspornt, wirkt nicht wie ein Makel, schadet auch nicht ihrer Autorität. Sie ist Teil dieses zauberhaften Wesens, das laufend Dinge zusammenbringt, die eigentlich nicht zusammengehören.

Furchtlos und selbstbewusst

Mit Emily Blunt hat man nun eine furchtlose Schauspielerin verpflichtet, um in diese Fußstapfen zu treten. Obwohl äußerlich um keinen Deut modernisiert, wirkt ihre Poppins im Habitus noch selbstbewusster, als sie an einer Drachenschnur auf die Erde herunterschwebt und das Heim der Banks betritt. Der Film spielt rund 25 Jahre nach dem Original im London während der Depression der 1930er-Jahre, Michael (Ben Whishaw) und Jane (Emily Mortimer) leben mit drei Kindern im alten Haus – die Mutter ist im Jahr davor gestorben.

Poppins geht mit ihrem sprechenden Papageienkopf am Gehstock ihre Arbeit noch umstandsloser an als im Original. Die Kinder werden ins Bad gesteckt, sie rutscht mit einem vergnügten Lächeln auf den Lippen gleich hinterher in die imaginäre Unterwasserwelt – es sind solche mimischen Details, mit denen Blunt ihren Part sofort mit Leben erfüllt.

Erfolgloser Maler statt Upperclass

Der entscheidende Unterschied von Mary Poppins' Rückkehr liegt in der Ausmalung der Klasse. Trug der alte Vater Banks noch die Züge eines Upperclass-Snobs, ist Michael nun ein erfolgloser Maler, dem die Bank – das Feindbild bleibt gleich – das Haus entreißen will. Wenn Poppins nun mit den Kindern ihre fantastischen Reisen unternimmt, kommt der Film Travers' ursprünglicher Idee sogar ein Stück näher: Hinein in die Landschaft einer Vase oder in die verkehrte Rumpelkammer von Tante Topsy (Meryl Streep) heißt hier hinaus aus der ökonomisch prekären Gegenwart.

Inszenatorisch bleibt Marshalls Ansatz betont restaurativ. Er bildet die Ära so ab – von den Kostümen bis in der Farbgebung –, wie sie Hollywood, speziell Disney, abzubilden pflegte. Auch Marc Shaimans Songs sind eng an den Maßgaben der berühmten Musik der Sherman-Brüder entworfen. "Nothing's lost forever, only out of place", singt Poppins an einer Stelle und trifft damit den Kern eines Films, der eine Figur, die nie wirklich weg war, wieder ins Rampenlicht rückt. (Dominik Kamalzadeh, 19.12.2018)