Tschechische Republik, Mitte der 1990er-Jahre. Bei einem Auslandssemester lerne ich Menschen aus ganz Europa kennen. Ich studiere in Brünn, nicht in Prag. Der Vorteil: Nach Brünn kommt, wer sich das Studentenleben in Prag nicht leisten kann. Mit mir im Studentenheim lebt ein Rumäne, eine Weißrussin, mehrere Bulgaren. An der Uni sitze ich mit tschechischen Kolleginnen und Kollegen im Seminar über politische Theorie.

Politikwissenschaft ist damals ein junges Fach, im sogenannten Staatssozialismus war es verboten. Der Lehrende ist ein Jurist, die Grundkenntnisse in politischer Theorie und Regimelehre hat er sich an der Central European University (CEU) geholt. Die meisten Studierenden haben sich an der CEU beworben, auch meine Mitbewohner im Heim sind entweder schon dort oder schrieben fleißig an ihrer Bewerbung.

Mitte der 1990er war die CEU Symbol für den Aufbruch in Europa. Dort lernte man, dass Demokratie nicht vom Himmel fällt, sondern harte Arbeit ist. Dort erhielt man das dafür nötige Werkzeug. Die Menschen, mit denen ich in Tschechien lernte und zum Teil auch befreundet war, waren in der "Finsternis" aufgewachsen. So bezeichnete man in der ehemaligen Tschechoslowakei die bedrückenden Jahre nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Und plötzlich 1989, freie Wahlen. Demokratie praktizieren, ohne sie jemals gelernt zu haben durch Eltern, die mit Freunden diskutieren, wählen gehen.

Geschärfter Blick

An der CEU lernten junge Menschen aus ganz "Osteuropa" nicht nur etwas über formale Abläufe: Wahlen, parlamentarische Abstimmungen, die Rolle des Staatsoberhaupts. Es ging auch um das demokratische "Unterfutter", also um zivilgesellschaftliche Bewegungen und Bürokratien, die ihr Handeln von Medien und Öffentlichkeit kontrollieren lassen müssen. Kurzum: Junge Menschen lernten an der CEU, dass die "Wende" 1989 kein Austauschen von Köpfen war, sondern ein gesamtgesellschaftlicher Umbruch. Ihr Blick wurde geschärft für anti-demokratische Tendenzen. Zwar waren sie danach – zu Recht – noch immer frustriert über manche Begleiterscheinungen der ersten demokratischen Jahre, etwa dass sich Einzelne im Zuge der Privatisierung von Staatsbesitz massiv bereichert hatten. Aber sie wussten, dass Demokratie eben "work in progress" ist, ein oft zähes Ringen um ein Gemeinwesen.

Dass die CEU nun Budapest verlässt, ist deshalb nicht nur eine Übersiedelung einer Privatuniversität nach Wien. Und es ist nicht nur die Konsequenz einer antisemitisch unterfütterten Fehde zwischen Viktor Orbán und George Soros. Oder eine belanglose Veränderung der Postadresse, wie Vizekanzler Strache zuletzt im STANDARD gemeint hat. Der Abzug der CEU aus Ungarn ist auch ein erzwungener Bruch der Schulung im Fach Demokratie, für deren Authentizität es wichtig war, vor Ort in einem ehemals staatssozialistischen Land zu sein. Es ist ein Zeichen, dass man keinen Wert mehr auf eine Ausbildung junger Menschen in demokratischer Theorie und Praxis legt. Dieses Signal wirkt über die Grenzen Ungarns hinaus – wie es auch die Central European University in den Jahrzehnten ihres Bestehens getan hat. (Elke Ziegler, 19.12.2018)