Marianne Hengl wurde mit einer Gelenksversteifung an allen vier Gliedmaßen geboren. Seit ihrem fünften Lebensjahr sitzt sie im Rollstuhl

"Ich bin Geschäftsführerin des Vereins RollOn Austria. Den Verein gibt es nächstes Jahr 30 Jahre. Gegründet wurde er vom SLW Soziale Dienste der Kapuziner, zu denen auch das Elisabethinum, ein Förderzentrum für Körper- und mehrfach behinderte Kinder, gehört. Vor 30 Jahren war man schon der Meinung, dass behinderte Menschen selbst initiativ werden und sich für ihre Rechte und Anliegen einsetzen müssen. Wir wollten eigenständig über unsere Anliegen sprechen und in der Öffentlichkeit Aufklärungsarbeit leisten. Und seitdem bin ich dabei. Das war im Oktober 1989, da haben sie mich gefragt, ob ich Obfrau von diesem Verein werden möchte.

Das hat aber eine lange Vorgeschichte. Ich komme aus dem Pinzgau und bin im Elisabethinum zur Schule gegangen. Ich bin von Geburt an schwer körperbehindert. Meine Behinderung ist eine Gelenksversteifung an allen vier Gliedmaßen. Das ist ein genetischer Defekt. Ich bin die Erste von fünf Kindern, aufgewachsen in einer wunderbaren Familienstruktur in Weißbach bei Lofer auf einem Bauernhof. Meine Behinderung hat meine Familie bei der Geburt erschreckt. Ich war ja das erste Kind, meine Gelenksversteifung war etwas ganz Fremdes. Aber der Glaube hat meine Eltern sagen lassen: Das Kind gehört zu uns, und es wird einen Sinn haben, warum die kleine Marianne in unsere Familie hineingeboren ist. Und sie haben mich geliebt, so wie ich bin. Sie wollten mich nie anders haben.

Rollstuhl als Käfig

Bis zu meinem fünften Lebensjahr bin ich auf dem Boden herumgerutscht, drinnen wie draußen. Und ich hab mein Leben geliebt. Ich bin mir überhaupt nicht behindert vorgekommen. Ich habe gar nicht gewusst, was das ist. Dann wurde ich in Hermagor operiert. Sieben Monate war ich weg von zu Hause. Zurückgekommen bin ich in einem Rollstuhl. Und der Rollstuhl war für mich ganz schrecklich, er war wie ein Käfig, wo ich mich nicht mehr so bewegen konnte. Aber meine Eltern bestanden natürlich vehement darauf, dass ich im Rollstuhl bleibe.

Ich habe mein Leben fast immer geliebt, war immer sehr wissbegierig und ehrgeizig. Also seit ich denken kann, reizt mich die Herausforderung, ich brauch immer irgendetwas, das eine Herausforderung für mich ist, damit das Leben spannend bleibt. Und so war es auch schon als Kind. Zu meiner Mama habe ich einmal gesagt, ich möchte einmal eine ganz besondere Frau werden, das erzählt sie immer.

Spannende Schulzeit

Mit sechs bin ich in die Schule ins Elisabethinum nach Tirol gekommen. Natürlich hab ich am Anfang oft Heimweh gehabt, das hat sich aber bald gelegt, weil ich unter meinesgleichen war. Ich hab plötzlich gemerkt, es gibt auch noch andere, die ein Handicap haben wie ich. Ich hab mich sehr wohl gefühlt und die Herausforderungen in der Schule sehr genossen – mit der Hand schreiben lernen, Maschineschreiben lernen, musizieren, ich hab ein eigenes Instrument bekommen. So hat sich das Leben im Elisabethinum mit Freunden, mit Schule, mit spannenden Ausflügen gefüllt.

Ich war auch eine gute Schülerin und habe nach dem polytechnischen Lehrgang eine Aufnahmeprüfung für eine Büro- und Verwaltungsschule in Innsbruck gemacht und auch bestanden. Ich habe mich wahnsinnig gefreut. In den Ferien hab ich dann einen Brief vom Direktor bekommen, in dem stand, dass sie mir leider absagen müssen, weil ich so schwer behindert bin. Das war für mich so ein Schmerz und eine Diskriminierung. Plötzlich war ich auf mich allein gestellt. Ich habe gewusst, ich überfordere meine Eltern, wenn ich von ihnen etwas verlange, was meine Zukunft betrifft.

Auf Arbeitssuche

Ich hab mir dann Telefonnummern von Pinzgauer Firmen herausgesucht und meine Geschwister gebeten, mit mir zu einer Telefonzelle zu fahren. Ich hab dann auf naive Art die Firmen angerufen und gefragt, ob ich mich bei ihnen vorstellen darf und dass ich gern bei ihnen arbeiten würde. Logischerweise hat das nicht funktioniert.

Aber im Elisabethinum hat man diese Aktion irgendwie mitbekommen. Das war 1980, im ersten internationalen Jahr der behinderten Menschen. Damals hat das Elisabethinum befunden, dass es Zeit wäre, auch einmal eine Mitarbeiterin mit Behinderung einzustellen. Und da haben sie mich aus dem Pinzgau wieder zurück ins Tiroler Land geholt. Das war für mich eine große Ehre. Ich habe ein kleines Büro gehabt, eine kleine Wohnung haben sie mir hergerichtet, und eine persönliche Assistenz wurde mir vom Elisabethinum zur Verfügung gestellt. Und ich habe dort als Sekretärin begonnen. Sie haben gesehen, dass ich irrsinnig ehrgeizig bin.

Wunsch nach Veränderung

Nach neun Jahren hab ich beruflich alles im Griff gehabt, mir ist bei der Arbeit fad geworden. Und der Wunsch, noch etwas anderes zu tun, ist größer geworden. Mir war schon klar, ich will und kann den Job nicht aufgeben, aber ich hab mich auf naive Weise bei vier Tiroler Reisebüros beworben, um dort einen Schalter für behinderte Menschen zu eröffnen. Drei Wochen später hat mich das Tiroler Landesreisebüro angestellt, und wir haben den ersten Schalter für Behindertenreisen in Österreich eröffnet. Als geringfügig Beschäftigte hab ich das am Freitagnachmittag gemacht.

Im Elisabethinum bin ich dann zur Fundraiserin aufgestiegen. Und der Verein RollOn Austria wurde gegründet, die Arbeit dafür wurde immer intensiver, weil der Verein immer bekannter wurde. Da war ich schon sehr ausgefüllt, und es ist immer mehr geworden. Jedenfalls war ich nach 36 Dienstjahren ganz mutig und hab im Elisabethinum gekündigt und mich mit RollOn Austria selbstständig gemacht.

Finanziell getragen wird RollOn Austria von ‚unseren Engeln‘, das sind die Menschen, die unsere Behindertenarbeit finanzieren und erst möglich machen. Der Landeshauptmann von Tirol, Günther Platter, hat uns ein barrierefreies Büro mitten in Innsbruck zur Verfügung gestellt, wo viele behinderte Menschen mit ihren Anliegen von nah und fern zu uns kommen können. Insgesamt hat RollOn Austria vier Mitarbeiter, alle sind gesponsert.

Auf Augenhöhe

Wir vermitteln immer wieder – durch unser Netzwerk – Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderungen. Außerdem sind wir quasi eine Anwaltsstelle für Menschen mit Behinderung, die diskriminiert werden. Das Wichtigste von RollOn Austria ist es aber, das Bild von Behinderten in der Öffentlichkeit zu ändern – unter anderem mit der Fernsehsendung Gipfel-Sieg auf ORF III. Dort stellen wir in Porträts jeweils zweier Menschen auf Augenhöhe vor, die auf unterschiedliche Weise schwere und ehrgeizige Lebensabschnitte zu einem persönlichen Gipfel-Sieg gemacht haben. Moderiert wird diese Sendung von Barbara Stöckl.

Ich würde mein Leben nicht tauschen wollen. Meine Neffen und Nichten haben mich, als sie klein waren, gefragt, was ich mir wünschen würde, wenn eine gute Fee kommen würde? Sie haben sich alle erwartet, ich würde mir wünschen, gehen zu können. Aber ich bin sehr dankbar für dieses begnadete Leben. Mein Glaube gibt mir Kraft und Zuversicht.

Abwechslungsreich und spannend

Mein Leben ist trotz meiner schweren Behinderung sehr spannend und abwechslungsreich. Ich habe einen wunderbaren Mann, bereits seit 23 Jahren sind wir miteinander verheiratet. Ein ganz besonderes Geschenk ist meine persönliche Assistentin, Ellen, die schon 40 Jahre an meiner Seite ist, die mich jeden Tag unterstützt in der Früh beim Anziehen, beim Essen, bei vielen weiteren Handgriffen, die ich selbst nicht machen kann. Sie ist ein ganz wichtiger Fels in der Brandung, neben meinem Mann, meinem Team und meiner Familie.

Mir schreiben viele Menschen: ‚Marianne, deine Karriere ist ja ein Wahnsinn‘ – alle glauben, ich habe eine Bombenausbildung gemacht, aber leider ist mir das aufgrund meiner schweren Behinderung verwehrt geblieben. Aber ich habe mich nicht unterkriegen lassen, sondern ich habe immer gedacht: Jetzt erst recht, wo sie mich so auf die Seite stellen und mir die Chance nicht geben, will ich trotzdem aus meinem Leben mit aller Kraft meines Herzens etwas Besonderes machen. Und das hab ich auch nie in Zweifel gestellt." (Protokoll: Gudrun Ostermann, 24.12.2018)