Märchen und ihre Fortschreibung als Prosaverzauberungen: Franz Josef Czernin.


Foto: Heribert Corn

Wilhelm und Jacob Grimm gaben ihre Sammlung der "Kinder- und Hausmärchen" 1812/1813 erstmals heraus. Spätere Auflagen erfuhren Erweiterungen, wobei aber auch Texte entsexualisiert und zudem verchristlicht wurden. Wie dem auch sei, die Märchensammlung der Gebrüder Grimm ist aus der deutschsprachigen Literatur nicht mehr wegzudenken. Die beiden Grimms sahen in ihr sogar eine besondere Art von "Erziehungsbuch". Das alles – und noch viel mehr! – hat den Dichter Franz Josef Czernin dazu veranlasst, sich den Grimm'schen Märchen anzunähern.

Nach Czernin betreten wir im Lesen der Grimm'schen Märchen einen besonderen Möglichkeitsraum der Literatur: "Was wäre das für eine Gesellschaft, die keine Fiktionen, also auch keine Märchen kennt? Wäre es dieselbe, die keinen Begriff von Wirklichkeit hätte?" Natürlich gibt die Märchenwirklichkeit Werturteile ab, sie moralisiert gerne, doch oft auf verwirrende Weise: Die Armen sind die wahrlich Menschlichen, aber oft ist der Dumme viel gescheiter als die vielen Gescheiten.

Wenn ein Frosch, ein Fuchs, ein Riese zu den Menschen spricht, sprechen alle die Sprache der Menschen. Im Märchen gibt es keine Sprachbarriere! Die Grimm'schen Märchen ergeben also eine Art "Erziehungsbuch", in dem Werturteile als fiktionale Erkenntnisform dargeboten werden, und zwar auf äußerst poetische Weise. Diese Überlegungen stammen aus dem Band Das andere Schloss. Hier beschäftigt sich Franz Josef Czernin auf poetologische, philosophische und soziologische Weise mit den Märchen. Es sind Reflexionen über Märchen. Doch gemeinsam mit diesem Band ist im Verlag Matthes & Seitz ein weiteres Buch erschienen: Der goldene Schlüssel und andere Verwandlungen. Hier schreibt Czernin die Grimm'schen Märchen um, ja, schreibt sie weiter.

Ein Märchen trägt den Titel Der goldene Schlüssel – für die beiden auch ein allegorischer Text für das (Er-)Finden von Märchen. Ein armer Bub geht in den Wald und findet einen goldenen Schlüssel. Weil er nicht dumm ist, also die Kraft des natürlichen logischen Schließens beherrscht, sagt er sich: Wo ein goldener Schlüssel ist, ist auch ein Schatzkästlein. Tatsächlich findet er eins – und der Schlüssel passt. Das Märchen endet: "Er probierte und der Schlüssel passte glücklich. Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen."

Czernin spinnt nun das Märchen poetisch weiter, indem er bestimmte Wörter beim Wort nimmt und dabei aus einem Schatz seinen "Schatz", also sein Liebste macht: "Und so wird aus dir, mein Schatz, sogleich Gold und Silber, wertvoll über alle Maßen und dabei ein Kästchen, aus dem nun ein Schloss wird, sowohl der Palast, mit all seinen Kammern, Zimmern und Gängen, als auch das planvoll geschmiedete Loch, das sogleich ein Schlüssel ist, der in es passt, und also drehe ich ihn, und drehe mich sogleich selbst, denn der Schlüssel, jawohl!, hat meinen Bart, und das ist, wir wissen es alle, ein uralter Witz."

Immer gültig

Czernins Text zu dem Grimm'schen Märchen Der goldene Schlüssel hat den Titel Der alte Witz. Doch der alte Witz mit assoziativer Sprachspielerei hat alles andere als einen Bart. Der Schluss des Märchens beinhaltet in verdichteter Form alle mögliche Erkenntnis der erzählten Märchenwelt. Wenn der arme Bub den Schlüssel ins Schatzkästchen gesteckt haben wird und ihn dreht, bis man ins Kästchen hineinschauen kann, "dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen".

Diese temporale Verbindung von Präteritum der erzählten Zeit zu einem Futurum, das eigentlich außerhalb der Erzählung liegt, deutet Czernin so: "Sobald der Deckel aufgemacht ist, erfahren wir noch nicht, was in dem Kästchen lag, sondern dann werden wir es erst erfahren. Die Zukunft wäre jenseits des Märchens. Und das vollendete Aufschließen des Kästchens wäre dann lediglich eine Bedingung dafür, dass diese Zukunft stattfinden kann." In den Grimm'schen Märchen berühren sich also die Zeiten als etwas "Zeitloses", etwas, das in allen Zeiten erzählt werden kann.

Es ist ein Wagnis, sich in der digitalisierten Welt, die Hypertexte einfordert, auf die Spurensuche einer romantischen Märchenwelt zu machen – zumal der Autor keine psychoanalytischen Interpretationen ins Auge fasst. Doch das, was die Grimm'schen Märchen heutigen Lesern zu sagen haben, zeigt Czernin in beiden Bänden auf. Und er macht dies auf eine leidenschaftlich Weise, die die Lektüre zu einem beschwingten Erlebnis macht. Einem "Hans im Glück" fühlt man sich nahe. – "Man muss Glück haben beim Lesen, dann liest man glücklich; man liest sich glücklich in dem Lesen gemäßen Zustand." (Andreas Puff-Tojan, 22.12.2018)