Für die Soziologen Boltanski/Esquerre prägt den westlichen Kapitalismus nicht mehr die Produktion neuer, sondern die kulturelle Aufwertung bereits vorhandener Dinge.

Suhrkamp

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Ein antikapitalistisches Graffito in Mexiko richtet sich gegen Touristen – auch sie stehen im Fokus der soziologischen Analyse.

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Der Autor David Sax preist es als Symbol für die Rückkehr analoger Dinge, Kapitalismuskritiker müssten es eigentlich verwerfen: Das "legendary" Moleskine-Notizbuch bindet uns einen historischen Bären auf.

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Zu Weihnachten wird es wieder unter tausenden Christbäumen liegen: das Notizbuch von Moleskine. Edler Einband, feinstes Papier, legendäre Geschichte. Schon Pablo Picasso soll in dem kleinen Schwarzen seine Ideen skizziert, Ernest Hemingway mit dessen Hilfe gar Weltliteratur geschaffen haben. Das Moleskine gilt seit jeher als steter Begleiter der Klugen, Kreativen und Erfolgreichen – und jener, die auf dem Weg dahin sind. So zumindest will es uns das Mailänder Unternehmen weißmachen. Allein: Die Story ist erfunden, ein Marketingtrick, mit dem sich der 1997 gegründete Notizbuch-Hersteller seinen eigenen Mythos zurechtzimmerte.

Es ist nur eines von unzähligen Beispielen, die von der um sich greifenden ökonomischen Verwertung von Geschichte zeugen. Die französischen Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre haben in ihrem unlängst erschienenen Wälzer Bereicherung – Eine Kritik der Ware (Suhrkamp) eine umfassende Theorie dazu ausgebreitet. Ihr Befund: Die Wertschöpfung in den auch als spätkapitalistisch beschriebenen westlichen Industrienationen stütze sich immer weniger auf die Herstellung neuer, innovativer Produkte, sondern vielmehr auf die Aufwertung bereits vorhandener Dinge. In dieser "l'economie de l'enrichissement", zu Deutsch sowohl "Bereicherungsökonomie" als auch "Anreicherungsökonomie", werden geschichtliche Narrative, egal ob frei erfunden oder authentisch, zum verkaufsbestimmenden Faktor.

Luxuskonzerne, die ihre eigene Geschichte fälschen

Als Epizentrum dieser Entwicklung, die mit der vollzogenen Auslagerung der Massenproduktion in Billiglohnländer einhergegangen sein soll, analysieren die Soziologen ihr Heimatland Frankreich. Sie beschreiben, wie sehr sich etwa Luxuskonzerne bemühen, ein Image als traditionelle Betriebe der Handwerkskunst aufzubauen. Die Firmen legen sich Museen und protzige Kunstsammlungen zu, sie spiegeln kleingewerblich-regionale Verwurzelung vor, die sich bei näherer Betrachtung als Heuchelei entpuppt.

Befeuert werde der Siegeszug der Bereicherungsökonomie von der staatlichen Kulturpolitik: Mit Verve werde seit den 1980er-Jahren an einer Musealisierung ganzer Landstriche gearbeitet, um den sogenannten Qualitätstourismus zu stärken, der Reisen wieder zum Luxus machen soll. Der ursprünglich linke Gedanke, sterbende Industriegebiete durch die Ansiedlung von Kultureinrichtungen "aufzuwerten", leiste der Gentrifizierung (Vertreibung sozial Benachteiligter durch steigende Mieten) Vorschub. Die Katze der linken Kapitalismuskritik beißt sich in den eigenen Schwanz, wenn die Soziologen festhalten, dass sich die Bereicherungsökonomie ehemals links besetzte Felder wie Handwerk und Regionalismus einverleibe.

Aus Industrie- sollen Kulturstädte werden

Dass das auch hierzulande zu beobachten ist, zeigt das Beispiel Oberösterreich, wenn, wie jüngst in einem Streit um Kultursubventionen, die ÖVP-geführte Landespolitik der SP-regierten Stadt Linz höhnisch in Erinnerung ruft, dass man doch den erfolgreichen Übergang von einer Industrie- zu einer Kulturstadt vollzogen habe und an dem nun weiterbauen müsse. Hier setzt die moralische Kritik der französischen Soziologen ein: Die Bereicherungsökonomie verstärke letztlich die Kluft zwischen Arm und Reich. Demnach würden ausschließlich jene gewinnen, die bereits über Kapital verfügen, sei es in Form vererbter Besitztümer oder in Form kulturellen Kapitals, von dem bildungsferne Schichten ausgeschlossen bleiben.

Das heißt aber nicht, dass das Gebot der Bereicherungsökonomie, sich einem Sammler gleich auf die Produkte der Vergangenheit zu stürzen, nicht doch bis zu Otto Normalverbraucher durchdringen würde. Möglicherweise lässt sich mit Boltanskis und Esquerres Theorie der sensationelle Erfolg der TV-Trödelwarenhändler-Show Bares für Rares erklären, bei der selbst dem kaputtesten Ramsch Wert angedichtet wird, sofern sich damit eine gute Geschichte verknüpfen lässt. Oder jene Vintage- und Retrotrends, die den Kulturkonsum der letzten zwanzig Jahre geprägt haben: von der wundersamen Rückkehr der Schallplatte bis zum Hipster-Hobby des Flohmarktkaufrauschs.

Nicht jedes Handwerksprodukt ist "böse"

Und doch ist der pessimistische Sound, den die französischen Soziologen ganz in der Tradition ihrer Zunft an den Tag legen, zu hinterfragen: Nicht hinter jedem Waldviertler Handwerksprodukt verbirgt sich nämlich die böse Verwertungslogik des Spätkapitalismus, sondern ehrliches Interesse an einer für Mensch und Umwelt verträglichen Ökonomie. Das Phänomen einer in der digitalen Übersättigung gewachsenen Sehnsucht nach "realen" Dingen lässt sich ebenfalls genauso gut positiv deuten, wie es etwa der Autor David Sax in Die Rache des Analogen (Residenz, 2017) tut.

Weihnachten ist wohl die beste Zeit, um über Tradition und deren Vermarktung kritisch nachzudenken. Salzburg hat seinen Kulturexportschlager Stille Nacht zum 200-Jahr-Jubiläum jedenfalls nach allen Regeln der Kunst ausgeschlachtet. Dass der Hilfspfarrer Joseph Moor seinen Text einst in ein "legendary" Moleskine gekritzelt haben könnte, wird man erst noch gut erfinden müssen. (Stefan Weiss, 22.12.2018)